Von Matthias Wiesmann

Eben war es eine fast normale, immerhin etwas exotische Tatsache, dass es eine Spezies von Menschen gibt, die man als Oligarchen bezeichnet. Dass daran etwas schief sein könnte, gelangte kaum in das öffentliche Bewusstsein. Und nun ist es plötzlich eine ebenso normale Tatsache, dass es Outcasts, Ausgestossene gibt, die nur deshalb Ausgestossene sind, weil sie sehr reich und russischer Provenienz sind. Es scheint normal zu sein, dass man deren Vermögen sperrt, sodass manche ihre Angestellten nicht mehr entlöhnen können.

Wie manchmal habe ich mich doch nicht gewundert, wenn beispielsweise für einen öffentlichen Fussweg etwas Land einer grossen Villa am See beansprucht werden sollte und die vereinten bürgerlichen Parteien von schwerwiegenden Eingriffen in die Eigentumsfreiheit, die Schule machen könnten, warnten. Und nun wird vielen Superreichen Leuten gleich die ganze Verfügungsgewalt über ihr Eigentum unterbunden. Was hat es denn nun mit den Eigentumsrechten auf sich?

Wie wunderte ich mich doch damals (2006), als Viktor Vekselberg mit hehlerischer Hilfe der Zürcher Kantonalbank Aktien des Sulzer-Konzerns unter Umgehung von Meldepflichten aneignen konnte, die ihm den massgeblichen Einfluss an dieser Unternehmung sicherte, ohne dass dieser Kauf von Amtes wegen rückgängig gemacht wurde, als der Vorgang publik wurde. Man kann sich hierzulande also auch mit krummen Touren ein Imperium aufbauen.

Und nun verlieren die Gesinnungsgenossen von Vekselberg ihr Vermögen (oder wenigstens die Verfügungsgewalt darüber), ohne dass unsere Politiker und Anwälte des Rechtsstaats sich in Artikeln, Repliken und Dupliken in der NZZ über die Rechtmässigkeit dieser Vorgänge ergehen würden. Ist das mit dem Rechtsstaat gar nicht so ernst gemeint? Oder nur fallweise?

Nicht dass ich mich selber zum Anwalt dieser Leute, die auf dubiosen Wegen zu ihrem Vermögen gekommen sind, machen möchte. Es geht mir eher grundsätzlich um das Rechtsbewusstsein oder vielmehr noch um das Unrechtsbewusstsein. Dieser Begriff tauchte in meinem Vokakbular auf, als in der Schweiz erbittert um das sogenannte Bankgeheimnis gestritten wurde und die Schweiz schliesslich – wenigstens ein Stück weit – klein beigeben musste. Der Begriff wurde vom Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann verwendet. Er (ein Deutscher) erfrechte sich, den Schweizern vorzuwerfen, ihnen fehle das Unrechtsbewusstsein. Deshalb könnten sie hinterzogenem Fluchtgeld ohne Gewissensbisse Asyl gewähren. Damit hatte er eine Hexenjagd gegen sich selber losgetreten. Seine Habilitationsschrift an der Universität St. Gallen war bereits angenommen worden. Er durfte noch die damit verbundene Antrittsvorlesung halten. Das war dann aber auch das Ende seines Wirkens an dieser Hochschule. Seither wirkt er in Berlin. Mit dieser Kampagne war aber auch klar (mir wenigstens): Fehlendes Unrechtsbewusstsein ist kein ausschliessliches Merkmal russischer Oligarchen.

Fehlendes Unrechtsbewusstsein ist allerdings nicht die einzige, nicht einmal die wichtigste Bedingung für das Gedeihen eines Oligarchats. Eine weitere Voraussetzung ist ein nicht ganz so klarer Rechtsrahmen beziehungsweise eine Beamten- und Richterschaft, die wenig interessiert daran ist, Klarheit zu schaffen. 1997 war ich in Moskau, um einen Kurs für KMU-Unternehmer zu geben. Es nahmen ganz unterschiedliche Menschen teil, vom Hersteller von Holzspielzeug bis zum Medienunternehmer, von Russen bis zu Ukrainern. Verschiedentlich hörte ich von den Teilnehmern, dass man ein Unternehmen in Russland etwa alle fünf Jahre liquidieren und neu gründen sollte – aus folgendem Grund: Die Behörden haben fast beliebig viele Möglichkeiten, einem Unternehmer Vergehen in der Vergangenheit nachzuweisen (oft wohl Bagatellen) und ihn mit derart hohen Bussen zu belegen, dass er liquidieren muss. Ein mit der Behörde verabredeter Käufer steht schon bereit, erwirbt das Unternehmen zu einem Spottpreis und entrichtet einen Obolus an seinen Vertrauensmann bei der Behörde. Je älter ein Unternehmen ist, desto eher werden solche Fehler zu finden sein.

Das riecht nach einem ziemlich korrupten Lottersystem. Das haben wir in der Schweiz natürlich nicht. Hier geht alles mit rechten Dingen zu. Beziehungsweise: es wird ganz offiziell dafür gesorgt, dass niemand gewisse Dinge, die nicht so ganz lupenrein sind, wahrnimmt. Dies ist der Grund, weshalb die Bankiervereinigung die russischen Vermögenswerte zwar auf 150 bis 200 Milliarden Franken schätzt, jedoch gesperrt (gefunden) aber bisher erst etwa 7,5 Milliarden wurden. «Auch wenn im Ausland wohnhaft, haben sie mithilfe von Genfer, Zürcher oder Luganeser Anwaltskanzleien mit Offshore-Schachtel-Konstrukten über Briefkasten-Firmen in Panama, Bahamas oder Jungferninseln ihr Vermögen anonymisiert und versteckt.» (Rudolf H. Strahm, Tages Anzeiger 19.4.2022) Von den Panama Papers, der unerschöpflichen Quelle an Informationen «geflüchteter» Vermögen, wollte die Schweiz als einziges Land nichts wissen. («Ich heisse Hase und weiss von nichts.») Die Stellung der Wirtschaftsanwälte im Parlament ist derart stark, dass sie sich erfolgreich gegen die Unterstellung unter die entsprechenden Gesetze wehren konnten, die sie zu Offenlegungen und Meldungen verpflichtet hätten. Ein Wirtschaftsanwalt kann also seinem Kunden A empfehlen: eröffnen sie eine Stiftung dort und dort unter dem Namen X. Wenn dann die Strafverfolger nach dem Vermögen von A fahnden, weiss der Wirtschaftsanwalt von nichts. Es gibt ja keine Vermögenswerte unter dem Namen A, nur unter dem Namen X, und danach wurde ja nicht gefragt. Wie soll die Behörde danach fragen können, wenn der Name X dem Anwaltsgeheimnis unterliegt? (Etwa so stelle ich mir wenigstens die Konstrukte etwa vor.)

Es gibt einen dritten Aspekt: Die Systemwechsel im Osten führten zu Verkäufen ehemals staatlicher Unternehmen. Das gab es nicht nur in Russland, sondern in allen osteuropäischen Staaten. Hier ein polnisches Beispiel: Die reichste Polin heisst Grazyana Kulczyk. Sie liess im Unterengadin (Susch) für Dutzende von Millionen ein Museum für moderne Kunst bauen. Wie war sie zu ihrem Reichtum gekommen? Die NZZ am Sonntag vom 22.12.2018: «Nach der Wende 1989 hat sie mit ihrem damaligen Mann Jan Kulczyk staatliche Unternehmen privatisiert.» Niemand behauptet, die Kulczyks hätten sich schamlos bereichert. Das passierte wohl einfach. Danach waren sie halt sagenhaft reich.

Es gibt durchaus Oligarchen, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben und damit ihr Vermögen mehren. Oft nutzen sie dabei Monopolsituationen oder haben sich Rechte angeeignet, die sie nun gewinnbringend zu nutzen wissen. Wohl immer kann man aber annehmen, dass das Vermögen von Oligarchen mindestens anfangs auf Aneignung von Volksvermögen beruht, was wir als doch etwas verwerflich empfinden. Ein Oligarch würde vielleicht sagen: das ist doch ganz normal. Ich war ja nicht so blöd, jene Gelegenheit einfach so vorbeigehen zu lassen. Ein anderer hätte sonst zugegriffen. Ja, begreiflich.

Fehlendes Unrechtsbewusstsein? Das kennen wir ja: Da hat einer (ein biederer Schweizer) vor ein paar Jahrzehnten ein Haus für 500’000 gekauft (oder er hat es gar geerbt). Und nun sagt ihm die Bank, das gut gelegene Haus sei nun 1.2 Mio wert. Und so verkauft er es auch. Ich glaube nicht, dass es viele Menschen gibt, die dabei Skrupel (Unrechtsbewusstsein) empfinden: Jahrzehntelang de facto gratis gewohnt, als Dreingabe ein paar Hunderttausend für einen sorglosen Lebensabend. Etwas Glück muss man halt haben. Jeder Andere würde sich in einer ähnlichen Situation gleich verhalten – so beruhigt man ein allfällig beunruhigtes Gewissen.

Was soll daran unrecht sein? Ja, wer hat denn die Wertschöpfung geleistet, die in dieser Preissteigerung zum Ausdruck kommt? Es war die Gemeinschaft aller, die eine aktive Wirtschaft und Kultur entwickelte, die Gemeinde, die Verkehrsanschlüsse, Schulhäuser und öffentliche Einrichtungen geschaffen hat, das Raumplanungsgesetz, das den bebaubaren Boden verknappt. Daraus ergeben sich die volkswirtschaftlichen Werte (eigentlich Volksvermögen), die sich im Hauspreis (eigentlich vor allem Bodenpreis) niederschlagen. – Sich Volksvermögen aneignen – das ist keine Oligarchenspezialität. Und überhaupt: von den finanziellen Dimensionen her wird der Hausverkäufer kein Oligarch. Er bekommt auf einen Schlag «nur» etwa so viel Geld, wie ein anderer während seines ganzen Berufslebens für seine Pensionskasse zusammenspart. Mit den Oligarchen teilt er aber, dass er ein allfälliges Gewissen, dass er nun wohl ein zu grosses Stück vom Kuchen bekommen habe, mit den Worten zum Schweigen bringt: Alle machen es doch so.

Sollen Oligarchen ausgestossen werden? Wenn mit solchen Massnahmen nur Personen russischer Provenienz ins Auge gefasst werden, dann müssen die Massnahmen als xenophob oder rassistisch bezeichnet werden. Am Kriegsgeschehen in der Ukraine ändern solche Massnahmen kaum etwas. Würden auch all die kleineren Oligärchlein ins Auge gefasst, all jene, welche die Gelegenheit zu Dieben am Volksvermögen gemacht haben, dann wäre zumindest eine Debatte angebracht, welche das Unrechtsbewusstsein auf den Stand bringt, welcher auch sozial wirksam werden könnte. Ich habe wenig Hoffnung, dass dies so schnell passieren könnte wie die Eröffnung der Jagd auf russische Oligarchen und ihre Yachten.

 

 

Erstveröffentlichung auf: http://matthias-wiesmann.ch/