Von Marc Desaules

Die Demokratie erweist sich zunehmend als unfähig, sich für den Weltfrieden einzusetzen und wirtschaftliche, klimatische oder gesundheitliche Probleme zu bewältigen. Auch die Schweiz mit ihrem Föderalismus und ihrem Recht auf Volksinitiative und Referendum steht beim Krisenmanagement nicht wirklich besser da.

Bedeutet das, dass die Demokratie nicht das Universalmittel ist, um unsere Gesellschaften zu steuern, dass sie weiterentwickelt werden muss? Die Antwort ist ja. Und um zu verstehen wie, sollten wir den Menschen, so wie er sich entwickelt hat betrachten. Auffallend ist der hohe Grad der Individualisierung, der ihn heute auszeichnet. Überall fordert er seine Autonomie, seine Freiheit. Zusammengefasst sagt er: „Ich will entscheiden können“, und dieser Wille geht über das hinaus, was bis vor kurzem noch eine Frage der Natur war – wie z. B. sein Geschlecht zu wählen oder den Zeitpunkt des eigenen Todes zu bestimmen. Welchen Sinn man auch dem Wort Freiheit gibt, es bedeutet, dass die künftige Steuerung unserer Gesellschaften vom Individuum ausgehen muss, der einzelnen Person. Betrachten wir hiervon ausgehend die Grundlinien der Beziehung der Menschen untereinander, finden wir im Prinzip drei voneinander unabhängige Grundformen des Interagierens.

Eine erste entsteht aus den Bedürfnissen, die wir haben, ob elementar oder subtiler – Essen, Trinken, sich kleiden, einen geschützten Raum zum Schlafen haben, vielleicht auch Lesen oder ins Konzert gehen, um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Bedürfnisse wollen wir befriedigen und suchen hierfür die Begegnung mit anderen.

Eine zweite Form, ebenso existenziell, aber völlig anderer Natur, entspringt den Tiefen der Erfahrung des eigenen Menschseins innerhalb einer Gemeinschaft. Dieses Erlebnis kann als das der Würde bezeichnet werden. Es entsteht eine Art Heimatgefühl, ein Gefühl der Zugehörigkeit oder Anerkennung.

Eine dritte Form drückt sich schliesslich in den individuellen, d.h. eigenen, Fähigkeiten aus, egal ob sie intellektueller, künstlerischer oder handwerklicher Art, angeboren oder erlernt, angelegt oder entwickelt sind. Sie charakterisieren das Instrument, das wir zur Verfügung haben, um uns den anderen mit unserer eigenen einzigartigen Note oder Farbe in der grossen menschlichen Sinfonie anzuschliessen.

Bedürfnisse, Würde und Fähigkeiten sind drei Register unserer sozialen Interaktionen, durch die wir einen dreidimensionalen sozialen Raum entstehen lassen: Wirtschaft, Politik und Kultur. Es ist Sache des Wirtschaftslebens, die Bedürfnisse aller Menschen auf der Welt zu befriedigen, die der Politik, die Würde aller Bürgerinnen und Bürger zu garantieren und die Ausbildung individueller Fähigkeiten muss der freien Initiative eines unserer Zeit angemessenen Kulturlebens überlassen bleiben. Und die Demokratie besteht darin, diesen sozialen Raum angemessen zu verwalten.

Aber der wachsende Freiheitsanspruch auf individueller Ebene bringt es mit sich, dass Bedürfnisse, Würde und Fähigkeiten immer mehr unabhängig voneinander werden. Dies verlangt, dass auch ihre sozialen Dimensionen – Wirtschaft, Politik und Kultur – an Unabhängigkeit gewinnen. Und hier wird eine Weiterentwicklung des einheitlichen Ansatzes der Demokratie notwendig.

Die Aufgabe des Staates mit seinen demokratischen Institutionen bleibt in erster Linie, für die Würde seiner Bürgerinnen und Bürger zu sorgen, ihnen durch eine angemessene Verfassung und Gesetze die Grundlage für ihre Entwicklung zur Verfügung zu stellen und sie durch eine Polizei – gegebenenfalls eine Armee – zu schützen. Wir müssen uns aber darüber klar werden, dass es immer weniger dem Staat angemessen sein wird, die beiden anderen Dimensionen unter seiner Kontrolle zu halten, sondern ihnen auf seinem Territorium eine Autonomie zuzugestehen: dem Wirtschaftsleben, dessen Aufgabe es ist, die Bedürfnisse aller zu befriedigen und auch dem Kulturleben, welches die Entfaltung der Fähigkeiten fördert, durch die Weitergabe von Wissen, die Lehre von Praktiken, die Pluralität der Forschung und alle Formen von Kultur, die, sobald sie aus dem Korsett demokratischer Organisation befreit sein werden, spontan aus vielen Initiativen entstehen werden. Darin besteht die notwendige Weiterentwicklung der Demokratie.

Kurz: Wenn die Demokratie an ihre Grenzen stösst, dann deshalb, weil sie sich immer noch um Dinge kümmert, die sie nicht mehr betreffen: die Wirtschaft und die Kultur. Um Abhilfe zu schaffen, müssen bewusst Strukturen geschaffen werden, die dem wirtschaftlichen und kulturellen Leben möglichst viel Eigenständigkeit geben. Wie lässt sich das bewerkstelligen?

Perspektiven für ein freies Geistesleben

Wir haben gesehen, dass die Demokratie nicht mehr ausreicht, um die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu organisieren. Auf der einen Seite individualisiert sich das Geistesleben um jede Person herum und droht jegliche von einer Mehrheit bestimmte soziale Kohäsion zu sprengen. Anstelle von quantitativen sind hier qualitative Regeln dringend notwendig. Auf der anderen Seite ist es nicht mehr möglich, dass das Wirtschaftsleben die globalen Ressourcen in ihrer Gesamtheit ausser Acht lässt. Die Grösse von nur einem einzelnen Land ist nicht mehr ausreichend, um der Herausforderung angemessene Entscheidungen zu treffen. Es muss also sowohl für das Kultur- als auch das Wirtschaftsleben eine neue Art der Entscheidungsfindung gefunden werden. Für ersteres mit einem individuellen, an den einzelnen Menschen angepassten Massstab, für das zweite mit einem globalen, dem Planeten und der Menschheit entsprechenden. Für diese beiden Gebiete stellen unsere demokratischen Institutionen ein politisches und staatliches Korsett dar, welches sie hindert, sich in die Richtung dessen zu entwickeln, was für das Gemeinwohl notwendig ist.

Beginnen wir mit dem ‚Geistesleben‘, das alles Individuelle umfasst: unsere Fähigkeiten und Vorlieben; unsere Sichtweise auf die Welt, den Menschen und auf die Technik; unsere Art zu leben; unsere Engagements, beruflich wie privat; unsere manuellen und intellektuellen Stärken und auch Emotionen, Freude, Liebe und Leiden… Kultur ist überall präsent: in unseren Medien, Berufen und Unternehmen; in der Art, wie wir die Geschichte betrachten, den Menschen, uns und Andere begreifen; in unserer Sicht auf Geburt und Tod und allgemeiner auch in Forschung und Bildung, von der Grundschule bis zur Universität und natürlich in allen Arten der Kunst und der Wissenschaft. In der Gesellschaft lebt das Geistesleben am stärksten in der unternehmerischen Freiheit, z. B. wenn man eine Bäckerei, ein Architekturbüro oder eine Schule eröffnet, sowie wenn man ein Buch schreibt, oder einen Malkurs anbietet.

Dieses Geistesleben, das in jedem Menschen sprudelt, ist in jeder Gesellschaft und auf der ganzen Welt die Quelle von Initiative, Kreativität und Erneuerung. Aber, so vielversprechend seine Dynamik auch ist: Wenn eine Mehrheit das letzte Wort hat, wird es eingebunden in die unvermeidliche Langsamkeit der demokratischen Prozesse und des Parlamentsbetriebes. So werden seine Flügel unweigerlich gestutzt und es erstarrt in Palaver und Papierkram, in einer Trägheit, die – selbst bei bestem Willen – Ausdruck der kollektiven Verwaltung ist.

Die Befreiung des Geisteslebens eröffnet grandiose Perspektiven, beinhaltet aber auch Gefahren. Der Freiheit eine Chance zu geben birgt Risiken. Das ist vermutlich auch der Grund, warum sich dieses so individuelle Geistesleben noch immer in der Hand von demokratischen Institutionen befindet: aus Vorsicht. Es ist aber gleichzeitig unvermeidbar, dass diese Institutionen, ob sie es wollen oder nicht, über die direkte oder indirekte Finanzierung verschiedene Bereiche innerhalb des Geisteslebens beeinflussen, so z. B. die Bedingungen für wissenschaftliche Forschung oder künstlerischen Ausdruck, das Einschulungsalter, den zu unterrichtenden Stoff und wie man ein Diplom erhält, die Art wie Informationen behandelt werden und die daraus entstehende öffentliche Meinung, die medizinische Pflege und vieles andere mehr.

Ja, es ist Aufgabe des demokratischen Staates, einen Rahmen und die entsprechenden Schutzmassnahmen zu schaffen, damit jeder Mensch in Würde leben kann. Es ist an der Politik, der Freiheit des Geisteslebens Grenzen zu ziehen, aber auch seine Entfaltung und vor allem seine Autonomie zu ermöglichen und zu schützen. Aber jenseits dieser Rahmenbedingungen darf sich der Staat nicht in Programm oder Finanzierung einmischen; nicht selber Schule, wissenschaftliche Forschung, Information oder Medizin werden; nicht bestimmen wollen, was vernünftig ist, was man glauben oder nicht glauben soll. Denn die Wahrheit, das Schöne und das Gute sind nicht Sache einer Mehrheit.

Damit nicht Chaos entsteht, wo der Staat sich zurückzieht, muss es dem Geistesleben überlassen sein, das ihm Eigene – d.h. alles, was vom Individuum kommt – zu gestalten und hierfür angemessene Verwaltungsformen zu schaffen. Dazu muss das Geistesleben eine sowohl vom Staat als auch von Finanzierungsquellen unabhängige Form der Selbstverwaltung finden, einen Weg, sich seine Ideen, seine Kreativität und die daraus entstehenden Initiativen anzueignen, damit sie sich mit der nötigen Freiheit dafür einsetzen, sie angemessen entwickeln und die volle Verantwortung dafür übernehmen kann.

Regeln für die Freiheit

Wir haben gesehen, dass es ein Nutzen für die Gesellschaft wäre, wenn die Schulen, die Universitäten, generell die Ausbildung, wissenschaftliche und künstlerische Forschung, Arztpraxen, Krankenhäuser, das Gesundheitssystem, kurz, wenn das Geistesleben unabhängig vom Staat, der demokratischen Verwaltung und ihrer Trägheit würde. Aber wie kann man den Rahmen gestalten, der diesen Aktivitäten eine erfolgreiche Entwicklung ermöglicht? Welche Form des Regierens braucht die Freiheit, damit sie ihr Potential entfalten kann, ohne in Anarchie abzugleiten?

Es gibt im Wesentlichen drei. Zuerst einmal der rechtliche Rahmen selbst, der natürlich der Massstab bleibt. Er ist durch die Gesamtheit der Gesetze und Verordnungen gegeben, die in einem bewährten demokratischen Prozess beschlossen wurden. Er entwickelt sich je nach Situation und in Abhängigkeit von der Rechtsprechung weiter und legt die Bedeutung und die allgemein menschlichen Grenzen für diese oder jene Tätigkeit fest.

Dazu kommen die Regeln, die sich die Freiheit selbst gibt, eine dem Geistesleben eigene Art der Führung. Rudolf Steiner beschreibt sie in seinem Buch Die Kernpunkte der sozialen Frage: „Es gibt keine andere Möglichkeit, die Aufnahme [des Geisteslebens] in gesunder Art zu bewirken, als sie von der freien Empfänglichkeit der Menschen (…) abhängig sein zu lassen“. Auf der einen Seite ist also die Freiheit der Initiative und auf der anderen die Freiheit ihre Berechtigung anzuerkennen. Die freie Initiative wird nicht behindert, aber sie wird durch das ebenso freie Echo, das sie erhält, objektiviert. Diese Vorgehensweise ist nicht neu: Die meisten Wohltätigkeits-, Sozial-, Umwelt- und humanitären Organisationen, alle Arten von künstlerischen und wissenschaftlichen Projekten sowie viele Unternehmen mit ideellen Zielen funktionieren auf diese Weise. Sie müsste aber auch in grösserem Umfang auf ganze Bereiche unserer Gesellschaft angewandt werden können, die heute durch den Einfluss des Staates erstarrt sind.

Wie wir oben festgestellt haben, wird das, was auf der Ebene des Rechts und des Schutzes der Person richtig ist, auf der Ebene der Kreativität und der Initiative falsch. Das Loslassen des Staates ist daher von größter Bedeutung und würde viel frischen Wind in die gesamte Gesellschaft bringen. Erinnern wir uns: Der Staat entspricht mit seinen Entscheidungen bestenfalls einer Mehrheit und unterdrückt dabei zwangsläufig die Impulse, die in den Minderheiten entstehen. Vom Typ her ist er ein planwirtschaftlicher Akteur, der der tatsächlichen Situation immer hinterherhinkt. Daraus ergibt sich der grosse Mangel an Vielfalt, der unsere Gesellschaften träge macht und verhindert, dass wir mit ausreichender Reaktionsfähigkeit und Einfallsreichtum auf die jeweils aktuellen Probleme reagieren.

Es gibt einen dritten Regulierer für Unternehmergeist. Es ist das Geld, genauer gesagt die Macht, die man damit ausüben kann. Freie Initiativen müssen sich davon befreien können. Aber wie? Am besten wäre es, eine Rechtsform mit einer Beteiligungsfinanzierung zu schaffen, bei der diejenigen, die eine Initiative für richtig halten, die notwendigen Geldmittel bereitstellen und gleichzeitig die Freiheit und die Verantwortung für die Entscheidungen vollständig bei der Initiative lassen.

 Leider hat in der heutigen Gesellschaft überall das Geld das letzte Wort. Doch dies muss sich allmählich ändern, denn es sind die Initiativen, die dem Kapital seinen Wert verleihen und nicht anders herum.

Unsere Welt braucht dringend eine Rechtsform, die der Initiative ihren Platz in der Gesellschaft gibt. Dies wäre eine neue juristische Form, die ihren Verantwortlichen solange gehört, als die Ziele und die Berechtigung des Unternehmens in der Umgebung Anerkennung finden. Ob sie nun Bäcker, Gärtner, Lehrer, Forscher, Arzt, Hebamme, Apotheker, Bühnenkünstler, Musiker, Unternehmer, Richter oder Priester sind, sie wissen am besten, was zu tun ist, und müssen das letzte Wort haben. Sie sind auch diejenigen, die wissen, wie viel Kapital sie brauchen, um ihre Ideen zu verwirklichen.

Eine solche Form ist bereits heute möglich. Sie ist es, die wir nach und nach für unsere Aktivitäten entwickelt haben. L’Aubier SA ist eine Aktiengesellschaft, die wir so gestaltet haben, dass sie der oben genannten Anforderung entspricht. Zunächst ist das Aktienkapital in zwei Arten von Aktien aufgeteilt, die kleinen zu je 100.– und die großen zu je 1 000.–. Den kleinen haben wir zehnmal so viele Stimmrechte zugeteilt; sie haben die Mehrheit und stehen nicht zum Verkauf. Um die Macht des Aktienkapitals zu neutralisieren, werden sie in einem kleinen Verein mit ideellem Zweck gehalten, der aus den Initiativträgern und den Verantwortlichen besteht. Um schließlich ggfs. eine Erhöhung des Aktienkapitals zu ermöglichen und dabei die Beziehung zwischen kleinen und großen Aktien aufrechtzuerhalten, werden die großen Aktien zu je 1 111.– verkauft. So bringen sie das nötige Kapital, ohne jemals die Mehrheit zu übernehmen. So gestaltet, verschafft die AG den Ideen Autonomie gegenüber dem Kapital und schützt die Initiative vor der Macht des Geldes.

Mehr als eine solche Steuerung der Freiheit mit einem gesetzlichen Rahmen und einer anfänglichen angemessenen finanziellen Förderung braucht es nicht. Hier und jetzt. Nach und nach werden sich freie Schulen, eine freie Ausbildung, eine freie Forschung, freie Arztpraxen, freie Unternehmen usw. entwickeln. Und ihre Kreativität, ihr Einfallsreichtum, ihre Anpassungsfähigkeit werden zeigen, dass ein solches Geisteseben wesentlich effektiver ist, wenn es autonom ist.

Es ist hier wichtig zu erkennen, dass in der Struktur des Nationalstaates, so wie er nach dem ersten Weltkrieg geschaffen wurde, die Ursachen für viele Konflikte auch in der heutigen Zeit liegen können. Dieser Nationalstaat kontrolliert das Geistesleben und die Bildung eines Landes sowie das Rechtsleben und die nationale Wirtschaft. Die Kultur eines Landes nach und nach aus den Staatsgeschäften zu lösen, ist einer der aktivsten Beiträge zum Frieden zwischen den Völkern.

(Fortsetzung folgt)