Istvan Hunter: Lieber Béla, du bist in unserem Initiativ – Kollegium der Fördergesellschaft Demokratie Schweiz. Kannst du uns etwas zur Revision der AHV (Änderung des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenen-versicherung (AHV 21)) sagen. Was sind aus deiner Sicht die Hauptprobleme des gegenwärtigen Rentensystems?

Béla Szoradi: Das Hauptproblem des gegenwärtigen Systems ist das kapitalgedeckte Rentensystem der Pensionskassen (BVG, sog. 2. Säule), das man nie hätte obligatorisch machen sollen (in der Schweiz seit 1984). Die riesigen Kapitalvolumen, die seither in die Pensionskassen geflossen sind, bedrohen unsere Rentenstabilität, weil sie u.a. zwar zu Anlage- und Renditezwecken an der Börse investiert werden, damit aber an der allgemeinen Börsenspekulation teilnehmen. Das wiederum führt dazu, dass die Pensionskassen aufgrund ihrer Trägheit im Vergleich zu professionellen Börsenhändlern aus Kursdifferenzen viel zu wenig effektive Gewinne (Gewinnmitnahmen) erzielen können. Sie sollen ja auch nur von langfristig steigenden Börsenkursen profitieren. Stattdessen werden riesige Spekulationsgewinne anderer Akteure mitfinanziert. Dies auch deshalb, weil bei einbrechenden Börsenkursen das Pensionskassensystem in eine Unterdeckung gerät, und aufgrund gesetzlicher Vorschriften dann die Pensionskassen saniert werden müssen, beispielsweise durch Solidaritätsbeiträge aller aktiven Versicherten zur Ausgleichung der Unterdeckung. Damit werden die Börsengewinne erfolgreicherer Akteure an den Börsen mitfinanziert. Wir können also sagen, dass wir über sog. Sanierungsbeiträge unsere Pensionskassenrenten indirekt nochmals zu einem gewissen Teil finanzieren.

Daneben sind die Pensionskassen durch die gesetzlichen Vorgaben zu einer sicheren Anlagestrategie gezwungen, was diese dazu bringt, ihre Investitionen auch in Immobilien oder Immobilienpapiere (Anlagefonds, die in Immobilien investieren) zu diversifizieren. Auch hier führen gigantische Investitionssummen von Pensionskassen dazu, dass Grund und Boden ein generell überhöhtes Preisniveau aufweisen, mit direkten Konsequenzen auch für die Mieten, die ihrerseits einem immensen Preisdruck ausgesetzt werden. Mit den um die Pensionskassengelder erhöhten Preisniveau von Grundstückspreisen und Mieten zahlen wir unsere eigenen Renten also indirekt ein weiteres mal.  

IH: Unsere AHV (sog. 1. Säule) wird durch ein Umlageverfahren finanziert. Das heisst, dass die gegenwärtigen wirtschaftlichen Erträge die Renten für alle ab 65 finanzieren. In diesem System werden unsere Kinder durchschnittlich 20 Jahre lang finanziert, arbeiten dann 40 Jahre und werden dann wiederum 20 Jahre finanziert. Haben wir damit nicht ein grundsätzlich gerechtes System?

BS: Auf jeden Fall! Der Generationenvertrag, der damit verbunden ist, ist zukunftsgerichtet, weil wir damit jeweils in die zukünftige Generation investieren. Wir sollten ohnehin alle menschliche Tätigkeit prinzipiell als Investition in die Zukunft betrachten. In wirtschaftlicher Hinsicht bedeutet dies, dass mit dem Bezahlen eines Preises nicht nur eine vergangene Leistung abgegolten wird, sondern eine zukünftige Leistung ermöglicht wird. In der Abgeltung liegt der vergangenheitsbezogene Gerechtigkeitsaspekt. In der Investition in die Zukunft liegt der ermöglichende, gestaltende, freiheitliche Aspekt. Wir investieren heute in die zukünftige Fähigkeit der Menschen, damit wir morgen erneut in die Zukunft investieren können. So sät der Bauer heute, damit er morgen eine Ernte hat, und diese Ernte hat er, damit er wieder säen kann. In diesem Sinne profitieren alle Menschen als Kinder und Rentner während insgesamt 40 Jahren, während auch diese während 40 Jahren ihren Kindern und Rentnern wirtschaftliche Sicherheit gewährleisten. In einem höheren Sinn wiederum wird auch jede Investition in die ältere Generation eine Investition in eine noch fernere Zukunft sein.

IH: Matthias Wiesmann weist darauf hin, dass es sich um einen Irrglauben handle, man könne Geld sparen und dieses Jahrzehnte später als Rente beziehen. (Man spricht in diesem Zusammenhang vom Eichhörnchen-Denken: Nüsse verstecken und später wieder ausgraben – wenn man sie noch findet). Volkswirtschaftlich gesehen sei dies Unsinn. Volkswirtschaftler haben bereits vor Jahrzehnten (vgl. Mackenroth 1952) festgestellt und weisen auch heute darauf hin (vgl. Zimmermann 2002), dass Renten nur aus wirtschaftlichen Erträgen derselben Periode ausgerichtet werden können. Mackenroth stellte damals fest: «Nun gilt der einfache und klare Satz, dass aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muss. Es gibt gar keine andere Quelle und hat nie eine andere Quelle gegeben, aus der Sozialaufwand fließen könnte, es gibt keine Ansammlung von Periode zu Periode, kein ,Sparen’ im privatwirtschaftlichen Sinne, es gibt einfach gar nichts anderes als das laufende Volkseinkommen als Quelle für den Sozialaufwand.» Würdest du diesem Satz zustimmen?

BS: Ich würde diesem Satz prinzipiell zustimmen, würde aber einwenden, dass die aufgeworfene Fragestellung hier zu undifferenziert beantwortet wird. Insbesondere die Frage nach dem Verhältnis der Begriffe Zeit, Sparen und volkswirtschaftlicher Produktion müssten genauer betrachtet werden, was aber im Rahmen dieses Interviews zu weit führen würde.

IH: Steht aus deiner Sicht die AHV auf einer so unsoliden finanziellen Grundlage wie es die Mehrheit bürgerlicher Politiker behauptet?

BS: Nicht interesse-gebundene Medien, wie insbesondere die hervorragenden Konsumentenmagazine K-Tipp und Saldo, berichten seit langem und regelmässig das haargenaue Gegenteil dessen, was Lobbypolitiker und eine interessengebundene Presse über unser Rentensystem sagen. Einerseits ist unsere umlagefinanzierte AHV (1. Säule) kapitalkräftiger und sicherer denn je! Die AHV hat ein riesiges finanzielles Reservepolster und es ist nirgends eine finanzielle Schieflage in Sicht. Andererseits wurde dem Arbeitnehmer und Stimmbürger durch die erwähnten Kreise die obligatorische kapitalgedeckte Pensionskasse (2. Säule) als das Nonplusultra aufgedrückt, diese dann später nochmals flächendeckend vom Leistungsprimat (soziales Versicherungsprinzip) zum Beitragsprimat (reines, egoistisches Ansparen der Vorsorgegelder) abgeändert. Und es ist jetzt ausgerechnet dieses favorisierte kapitalgedeckte Pensionskassensystem, das wir dennoch immer wieder sanieren müssen, während ausserdem der Umwandlungssatz (Umwandlung von Kapital in Rente) dauernd gesenkt wird. Damit dies vom Stimmbürger und den Arbeitnehmern nicht durchschaut wird, werden durch Lobby und Presse immer wieder Angstkampagnen um die Sicherheit unserer Rentensysteme geführt. Was sich gegen alle Prognosen bewährt hat (AHV), wird schlecht geschrieben, genauso wie dasjenige, was sich gegen alle Prognosen zu einem massiven Verlustgeschäft für die Arbeitnehmer entwickelt hat (Pensionskassen) gutgeschrieben wird. Wer diese Kampagnen auch über die Distanz verfolgt, stellt fest, dass sich jeweils alle Szenarien und Prognosen im Nachhinein in Luft auflösen, worüber dann natürlich nicht mehr berichtet wird. *

IH: Aber ist die Rentenlücke im umlagefinanzierten System, die von fast allen Politikern in Europa geltend gemacht wird, nicht ein reales Problem? Die Schere zwischen denen, die in der Schweiz in die AHV einzahlen und denen, die sie beziehen, klafft doch immer weiter auseinander? Wie sollen immer weniger Junge immer mehr Alte finanzieren?

BS: Solche Suggestivfragen sind eine direkte Folge der erwähnten intransparenten und irreführenden Presseberichterstattungen. Diese Behauptungen basieren in der Regel auf Statistiken verbunden mit entsprechenden Hochrechnungen und Modellierungen, die dann wie logische Naturkonstanten dargestellt werden. Die einzige Konstante hierbei ist, dass sie sich nachträglich nicht bewahrheiten. Die Alterspyramide stagniert seit über 10 Jahren statistisch. Auch die gegenwärtige Zuwanderung hat viele dieser Modellrechnungen und Prognosen hinfällig gemacht. Solange solche Behauptungen durch versteckte Interessen korrumpiert werden, Statistik hin oder her, müssen diese konsequent zurückgewiesen werden.

IH: Du sagst, dass die AHV solide finanziert ist, dennoch ist man sich in fast allen Medien darüber einig, dass die vorliegende AHV-Revision eine Notwendigkeit ist. Wie erklärt sich diese Differenz in der Wahrnehmung?

BS: Diese Frage kommt dem eigentlichen Problem am nächsten. Im Kernbereich aller sozialen Missstände finden wir ein gravierendes Medien- und Presseproblem. Medien und Presse sind in unserer Demokratie so eingerichtet, dass sie, statt objektiv zu informieren, danach streben, uns nach bestimmten vorgegebenen Interessen zu beeinflussen. Hinter der Medien- und Pressemacht haben wir eine gewaltige Kapitalmacht, die sich der Medien und Presse als Werkzeug bedient. Kein so abhängig gewordenes Medium bzw. Pressetitel könnte und wollte dies jemals eingestehen. Diese Presse vertritt vorwiegend das Interesse einer Kapitalumverteilung von Rentensparern zur «Finanzindustrie» (Banken, Versicherungen, Hedgefonds, Heere von Beratern etc.). Um dies durchsetzen zu können schiebt sie die angebliche Kapitalumverteilung von junger zu alter Generation vor. Indem sie so den aktuell noch gelebten Generationenvertrag in Frage stellt, versucht sie die Gesellschaft zu spalten. Behauptete Gegensätze treten an die Stelle der wirklichen Gegensätze. Man versucht dies auch mit der aktuellen AHV-Abstimmung (Erhöhung des Rentenalters für Frauen von 64 auf 65) wieder. Jede Erhöhung des Rentenalters führt heute aber nicht dazu, dass die Menschen in ihrer Mehrheit tatsächlich länger arbeiten, sondern nur dazu, dass sie sich das bisherige Pensionierungsalter neu mit einer weiteren Senkung der Renten erkaufen müssen. Eine weitere Verschleierung dieses Umstandes ist das aktuelle Argument der Flexibilisierung des Pensionsalters bis 70. Es wird also der generelle Umstand, dass sich nur Besserverdiener eine frühe Pensionierung leisten können, weiter ausgedehnt und zementiert. Solange der allgemeine Produktivitätszuwachs (steigendes BSP) nicht allen daran Beteiligten in gleichem Masse zugutekommt, was sich im generellen Absenken des Pensionierungsalters spiegeln müsste, findet eine undeklarierte und ungerechtfertigte Kapitalumverteilung von arm zu reich, von Beherrschten zu den herrschenden Kreisen statt. Und es ist jetzt eben meine Hypothese, dass an diesem Missstand nichts wirklich verbessert werden kann, solange das erwähnte Medien- und Presseproblem besteht, solange diese Presse dafür sorgt, dass die Stimmbürger immer wieder gegen ihre eigenen Interessen entscheiden und abstimmen.

IH: Müsste man denn aus deiner Sicht die AHV (1. Säule) zuungunsten der Pensionskassen (2. und 3. Säule) ausweiten, wie es Matthias Wiesmann vorgeschlagen hat?

BS: Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass man noch viel weiter gehen müsste: Ich würde das Obligatorium der Pensionskassen (2. Säule) komplett aufheben und stattdessen die AHV (1. Säule) zu einer Vollversicherung ausbauen. Deren Umlageverfahren ist das einzig sinnvolle, zweckmässige und zukunftsgerichtete System.

IH: Matthias Wiesmann hat in einem unveröffentlichten Leserbrief an die NZZ gezeigt, dass die Leistungen der Pensionskassen (BVG, 2. Säule) etwa 30-mal teurer sind als diejenigen der AHV (auf den Rentenfranken heruntergerechnet). Er schlägt also eine Verdreifachung der AHV zulasten der anderen «Säulen» vor. Ein reines Umlage-, statt eines kapitalgedeckten Altersvorsorgesystems. Wäre das aus deiner Sicht auch mit den Intentionen der Dreigliederung kompatibel?

BS: Das befürworte ich prinzipiell. Wer jedoch im Sinne der Dreigliederung für die Umsetzung zuständig sein wird, ist eine Frage, die noch erörtert werden müsste. In einer Assoziativwirtschaft, wie sie die Dreigliederung vorsieht, sähe ich dafür am ehesten die Wirtschaftsverbände zuständig. Der Rechtsstaat hätte jedoch auch in diesem System eine gesetzliche Sicherung einzubauen, weil es sich um ein existenzsicherndes System handelt.

IH: Steiner schlägt eine Trennung von Arbeit und Einkommen vor. Gleichzeitig wird es weiterhin die Wirtschaft sein, die über die Höhe des Lohnes und Preises in einer dreigliedrigen Gesellschaft bestimmt. Die Rente ist jedoch auch eine Rechtsfrage. Von welchem Akteur müsste aus deiner Sicht die Rente in einer dreigliedrigen Gesellschaft bestritten zu werden?

BS: Das Recht hat die Wirtschaft in allen Fragen der Sicherheit zu ergänzen. Damit kann die Ausgestaltung und der Betrieb des Rentensystems durch die Wirtschaft erfolgen. So kann die Wirtschaft gestützt auf grundlegende Sicherungs-bestimmungen des Rechtes gerechte Renten festlegen und diese, wie den Lohn, auch am Bedarf des Empfängers orientieren.

IH: Können die genauen Bestimmungen, ab welchem Alter und in welcher Höhe ein Rechtsanspruch auf eine Rente besteht, wirklich demokratisch festgelegt werden? Wäre dies nicht eine Aufgabe des Wirtschaftslebens?

BS: Der Rechtsanspruch als solcher in Form einer garantierten Existenzsicherung wird, wie gesagt, rechtlich festgelegt. Rentenalter und Rentenhöhe sollen einerseits an den Möglichkeiten der Wirtschaft, andererseits nach den Bedürfnissen der Rentner festgelegt werden. Da das Rentenalter auch von gesundheitlichen und vielen weiteren Aspekten abhängt, soll alles, was über der Existenzsicherung liegt, so frei wie möglich ausgestaltet werden können. Auch das Geistesleben (Gesundheit, Medizin) wird dazu etwas zu sagen haben.

IH: Lieber Bela, ich danke dir für das Interview

 

* Hier eine Auswahl von Ausgaben der erwähnten Konsumentenzeitschriften, die insbesondere erhellende Berichte über die AHV enthalten:

K-Tipp: 24. August 2022, 22. September 2021, 12. Februar 2020, 16. Oktober 2019

Saldo: 2. März 2022, 3. Februar 2021, 29. April 2020, 20. November 2019,