Dreigliederung ist gut! Aber wie bringen wir sie in die Praxis?

Prof. em. Stephan Rist

Das ist eine der häufigsten, bangen Fragen, die sich uns stellt, wenn wir uns mit der Dreigliederung des sozialen Organismus befassen. Die an der Dreigliederung ausgerichtete Gemeinschaftsbank hat zum Kennenlernen von «Treuhandprojekten», eingeladen. Es trafen sich Menschen, die einen Bedarf an persönlicher finanzieller Unterstützung für ihre Lebensprojekte haben mit Menschen, welche solche Projekte unterstützen möchten. Es war eine schöne Gelegenheit, die Praxis der Dreigliederung eindrücklich und hautnah kennenzulernen. Was wir daraus für die Frage nach der Praxis der Dreigliederung lernen können, habe ich hier zusammengefasst.

 

Um was es geht – die Idee der Dreigliederung

Die Grundfrage der Dreigliederung ist klar: Wie befreien wir uns – innerlich und äusserlich – von der allumfassenden Abhängigkeit des Rechts- und Geisteslebens, vom egomanischen Wachstums- und Technologiefundamentalismus des Wirtschaftslebens? Dass dies über noch mehr Staat und Zwang, oder noch mehr «Vertrauen in die freie Marktwirtschaft Holzwege sind, wird jedem denkenden Menschen schnell klar.

Vor diesem Hintergrund öffnet die Dreigliederung neue Horizonte. Die Neuordnung von Geistes-, Wirtschafts- und Rechtsleben, nach den Prinzipien der Freiheit, Brüderlichkeit  und Gleichheit, schaffen wir uns eine Gesellschaft, in deren Zentrum die Weiterentwicklung, die freie Selbstbestimmung in allen Lebensbereichen, nicht das Problem, sondern die Lösung ist. Dazu stellen wir ins Zentrum des Geisteslebens die Freiheit; das ermöglicht freie Bildung, Wissenschaft, Medizin, Medien und Künste.

Das Wirtschaftsleben «erfinden» wir im Hinblick auf die Brüderlichkeit neu. An die Stelle des Konkurrenzkampfes um das höchste Wachstum von Kapital und Macht treten die Zusammenarbeit für die optimale Erfüllung des Bedarfs der Menschen an Konsumgütern des täglichen Lebens. Das neue Rechtsleben (Staat) entsteht, in dem es sich nur noch um die allgemeinen Grundsätze des menschlichen Zusammenlebens kümmert, bei denen wir die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz in Anspruch nehmen. Der Staat als Zwangsvollstrecker wirtschaftlicher und politischer Herrschaftsinteressen verliert seinen Schrecken. Er widmet sich denjenigen Aspekten, welche über das freie Geistesleben und die brüderliche Wirtschaft allein nicht sinnvoll geregelt werden können.

 

Da wo sich Gegenwart und Zukunft die Hände reichen

Vielen Menschen erscheint die Dreigliederung heutzutage eine «gute Sache». Sich damit befassen heisst, mein inneres Bewusstsein von den nie wirklich durchdachten Vorurteilen über das Menschsein zu befreien, Daran anschliessend entsteht die Frage: Was kann ich nun tun, um mitzuhelfen, dass sich auch die konkreten, äusseren Verhältnisse im Geistes-, Wirtschafts- oder Rechtsleben verändern?  

Die erste Antwort lautet: Wenn wir uns mit der Dreigliederung befassen, sind wir schon «da, wo sich die Gegenwart und Zukunft die Hände reichen». Die Zukunft fällt nicht vom Himmel, sondern sie ist Teil eines Entstehungsprozesses, an dem wir notwendigerweise teilhaben.  Entweder sind wir Teil der Zukunft durch das passive Hinnehmen, von dem was von aussen kommt; oder wir werden eine aktive Kraft der Zukunft, durch selbstbestimmtes Denken, Fühlen und Handeln. Ausserhalb der Zukunft kann kein Mensch stehen, auch wenn er so tut, als ob das möglich wäre.

Sind wir erst mal an diesem Punkt angekommen, wo sich Gegenwart und Zukunft – in unserem Bewusstsein – die Hände reichen, dann ergeben sich die weiteren Schritte auf dem Weg in die Praxis meist von selbst. Über die Beschäftigung mit den Grundlagen der Dreigliederung, begegnen wir zahlreiche Menschen, Gruppen und Organisationen, die sich mit den gleichen Fragen beschäftigen. Sie alle bieten vielfältige, spannende und inspirierende Wege in die Praxis der Dreigliederung. Hierzu ein konkretes Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung.

 

Marktplatz der Treuhandprojekte der Gemeinschaftsbank

Durch die Beschäftigung mit der Dreigliederung haben wir vor einiger Zeit beschlossen, Mitglied bei der Gemeinschaftsbank (https://gemeinschaftsbank.ch/) zu werden. Diese Bank versucht, im Rahmen der gegenwärtigen Möglichkeiten, die Grundsätze der Dreigliederung im Bereich der Finanzdienstleistungen in die Praxis zu bringen.  Am 4. November 2022 wurde zu einer besonderen Veranstaltung eingeladen: Die Gemeinschaftsbank hat Interessierte dazu eingeladen, Menschen aus fünf konkreten Unternehmen kennenzulernen, die im Sinn der Dreigliederung arbeiten. Das Ziel war Menschen zusammenzubringen, welche zusammenstehen, um die Praxis der Dreigliederung über «Treuhanddarlehen» weiterzuentwickeln. Über Treuhanddarlehen entstehen persönliche Beziehungen zwischen Menschen, die einen Bedarf an finanzieller Unterstützung haben und solchen, welche diesen Bedarf decken helfen können. Nehmer und Geber der Treuhanddarlehen vereinbaren frei und brüderlich ihre Art der Zusammenarbeit. Daraus entstehen gemeinsame Lebensprojekte von Nehmern und Gebern der Darlehen, welche ein konkretes Stück Praxis der Dreigliederung darstellen.

Mit kurzen Präsentationen stellten die Unternehmen ihre Aktivitäten und den Bedarf an finanzieller Unterstützung vor. Die Unternehmen arbeiten in der anthroposophischen Bildung, der dorfbasierten Arbeit mit Behinderten, an einem Generationenprojekt zur Unterstützung bio-dynamischer Landwirtschaft und dem Berufshandwerk, der Permakultur und der Bildung von assoziativen Nahrungsmittelketten. Danach gab es viel Zeit, um mit den Menschen aus diesen verschiedenen Praxisfeldern der Dreigliederung ins Gespräch zu kommen.

Durch diese Veranstaltung wurde die «Theorie» der Dreigliederung plötzlich Teil des realen Lebens von Menschen, die zusammen nach Möglichkeiten zur Förderung der Praxis der Dreigliederung suchten. Dazu führten wir angeregte Gespräche. Wir konnten so erfahren, wie die ursprünglich ökonomisch motivierte Begegnung sich langsam in eine geistig-seelische Verbindung verwandelte. Damit konnten wir alle miterleben, dass Ökonomie nicht nur mit äusseren Werten, sondern vor allem mit geistig-seelischen Verbindungen zu tun hat. Es wurde uns klar, dass es nur über diese innere Beziehung möglich ist, das Verhältnis zwischen den Vermittlern, Nehmern und Gebern von «Leihgeld» neu zu gestalten. Im Zentrum stand der materielle Bedarf an Finanzen von Menschen, die sich aus geistig-seelischen Motiven, als Geber und Nehmer von Darlehen für das freie Geistes- oder das assoziative Wirtschaftsleben engagieren.

Die Frage nach den Risiken, Laufzeiten und Zinssätzen, die nicht mehr als 1% betragen dürfen, spielten erst dann eine Rolle, wenn die Fähigkeiten, Bedürfnisse und Möglichkeiten der Menschen, die sich getroffen haben, bekannt und wertgeschätzt waren. So konnte jeder hautnah erleben, was es heisst, eine solidarische Wirtschaft oder eine freie Bildungsinitiative zu unterstützen, die den Menschen und der Natur dienen.

Zum Schluss der Veranstaltung fragte ich mich, was jemand tun könnte, der nicht in der schönen Lage ist, Menschen aus der Praxis der Dreigliederung mit finanziellen Mitteln zu unterstützen? Die Antwort war schnell gefunden: Alle Unternehmungen suchen den Kontakt zu Darlehensgebern als Mittel zum Zweck. Der Zweck der Initiativen besteht in erster Linie darin, sinnvolle Produkte oder Dienstleistungen anzubieten. Diese werden von mehr oder weniger gut organisierten Konsumenten und Konsumentinnen für die Deckung ihrer Bedürfnisse erworben. Damit zeigt sich, dass man auch als «nur» Konsument oder Konsumentin ein wichtiger Teil der Praxis der Dreigliederung werden kann.

Auch wenn es klar ist, dass keines der fünf Unternehmen alle Prinzipien der Dreigliederung vollumfänglich umsetzt, konnte die folgende schöne Erfahrung gemacht werden: Die Dreigliederungspraxis existiert. Sie liegt da, «wo sich Gegenwart und Zukunft die Hände reichen». Als Konsumenten, Produzenten oder Vermittler können alle ein Teil davon werden. Wir können so dafür sorgen, dass aus dem Händereichen in Zukunft eine gegenseitige Umarmung – und danach-  die Zukunft vollständig zur Gegenwart werden kann.