Zu Alexandra Hofmänner: ›Das Verhältnis von Wissenschaft und Staat in der Schweiz‹*
Artikel von Robert Zuegg. Der Artikel erschien ursprünglich in der Zeitschrift diedDrei 3/24 (www.diedrei.org)
Alexandra Hofmänner, promovierte Naturwissenschaftlerin und derzeitige Gastprofessorin an der Technischen Hochschule in Aachen, hat im vorigen Jahr eine Studie zum Thema ›Das Verhältnis von Wissenschaft und Staat in der Schweiz – Zur Gestaltungskraft der Rechtssetzung‹ veröffentlicht. Diese Neuerscheinung wird von Robert Zuegg, Jurist und ehemals Verfassungsrat im Kanton Zürich, nachfolgend kritisch gewürdigt, und zwar vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte über die Neuorientierung von Demokratie, Neutralität und Souveränität der Schweiz.
Alexandra Hofmänners erklärtes Ziel ist es, die wissenschaftliche Politikberatung zu institutionalisieren sowie die Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft neu zu bestimmen und sie prominent in der Schweizer Bundesverfassung (BV) zu verankern. Sie ist überzeugt: Traditionelle Wissensbestände reichten je länger desto weniger aus, um die heutigen Krisen zu bewältigen (Klima, Migration, Energie, Biodiversität etc.). Exekutive, Parlament, aber auch der Souverän bräuchten für ihre politische Entscheidungsfindung »wissenschaftliches Wissen«, d.h. fakten- und datenbasierte Evidenz, wie sie namentlich die inter- und transdisziplinäre, weltweit vernetzte Wissenschaft liefern könne: »Wissenschaft ist ein Allgemeingut, das im Prinzip immer und überall Geltung hat, ganz gleich, wo man sich auf der Welt befindet. In den letzten Jahren wurde aber offensichtlich, wie stark Wissenschaft […] durch nationale rechtliche Bestimmungen, Institutionen, politische Traditionen, Verfahren und Persönlichkeiten geprägt wird« (S. 8).
Werde Wissenschaft sich dieser Prägungen bewusst, so vermöge sie sich davon zu emanzipieren und ihre Geltung und Wirksamkeit zu steigern: »Denn das Wissen um diese Prägungen öffnet Handlungsspielräume« (ebd.). Zunächst für die Wissenschaft selbst. Dank einer optimierten Politikberatung kann sie dann der Politik neue Wege weisen – so der Gedankengang. Um dahin zu gelangen, gelte es, namentlich die Erfahrungen der ›Swiss National Covid-19 Science Task Force‹ 1 auszuwerten und – gestützt darauf – die wissenschaftliche Politikberatung sowie das Verhältnis zwischen Staat und Wissenschaft zunächst neu zu denken, dann mithilfe einer Verfassungsreform auch neu zu gestalten. Dies ist die Stoßrichtung des Buches: »Dem interdisziplinären Fachgebiet der Wissenschafts- und Technikforschung« – in dem Hofmänner tätig ist – »fällt in diesem wegweisenden historischen Moment eine besondere Verantwortung zu« (ebd.).
Anders gesagt: Die Corona-Krise hat schlagartig bewusst gemacht, dass die Wissenschaft eine gesellschaftliche Verantwortung trägt, und diese muss sie nach Hofmänner künftig gezielter wahrnehmen. Ist die wissenschaftliche Politikberatung erst staatlich institutionalisiert und damit demokratisch legitimiert, kann der Staat wissenschaftliche Evidenz viel systematischer für sein Krisenmanagement nutzen und öffentliche Mittel effizienter einsetzen. Diese Auffassung ist für viele Wissenschaftler heute ein Gebot der Stunde. 2 Andere befürchten, auf diesem Weg werde der alte Staat in einen neuen verwandelt, der primär wissenschaftlicher Evidenz folgt, während Ideen und Willen der beteiligten Menschen immer weniger beachtet werden. Wird die angesagte Neuordnung des Verhältnisses von Wissenschaft und Staat in einer Fusion oder gar in einer feindlichen Übernahme enden? Oder werden Wissenschaft und Staat auf gleicher Augenhöhe im Interesse der Menschen zusammenarbeiten, unter Wahrung gegenseitiger Unabhängigkeit?
Föderalismus als Stolperstein
Ernst-Wolfgang Böckenfördes berühmte Aussage: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann«3 , zielte bekanntlich weder auf Wirtschaft noch Wissenschaft, sondern auf die Religion, welche diese staatstragende Rolle jahrhundertelang ausübte, im säkularisierten Staat aber zusehends einbüßte. Hofmänner sieht – frag- und alternativlos – nun die Wissenschaft in dieser tonangebenden Funktion. Ein interessanter Vorgang: Während Religion und Staat im gegenseitigen Interesse und zu beiderseitigem Gewinn sich strukturell voneinander getrennt haben, sollen Staat und Wissenschaft offenbar stärker miteinander verflochten oder gar verschmolzen werden. Mit welchen gegenseitigen Erwartungen und Folgen für Politik, Wissenschaft und Gesellschaft sagt die Autorin nicht. Hören wir zunächst, wie sie die staatstragende Rolle der Wissenschaft mit den Erfahrungen der Corona-Krise begründet: »Die nationale Beschaffenheit der Wissenschaft, ihre Handlungen und ihr Auftreten während der Krise waren massgebend für die Bewahrung der staatlichen Ordnung, für den Zusammenhalt des Staates und der Gesellschaft, […] diese staatstragende Kraft wirkt nicht nur auf die exekutiven und legislativen Gewalten, sondern auch den politischen Souverän: Was die Bevölkerung weiss oder nicht weiss, was sie denkt zu wissen oder nicht zu wissen, ist entscheidend für die Funktionsweise der liberalen Demokratie. Dieser Wissensbestand bestimmt das politische Entscheidungsverhalten der Gesellschaft mit« (S. 96).
Hat aber die Covid-Krise tatsächlich die staatstragende Funktion der Wissenschaft unter Beweis gestellt? Angesichts der entstandenen gesellschaftlichen Gräben mag dies wie eine kontrafaktische Zweckbehauptung anmuten oder gar als Anbiederung, damit der Staat der Wissenschaft durch eine Teilrevision der Bundesverfassung zu größerer gesellschaftlicher Akzeptanz, Relevanz und auch zu mehr Finanzen verhilft. Dieser Versuch, eine bezweckte Wirkung als vollendete Tatsache auszugeben, stimmt nachdenklich und hängt vielleicht mit dem anwendungsorientierten Forschungsansatz der Autorin zusammen. Hier wird sie ihrer Maxime untreu, tradierte Denk- und Handlungsmuster kritisch zu hinterfragen. Geschieht das nicht, besteht die Gefahr, dass diese unter anderen Vorzeichen doch fortvererbt statt verwandelt werden. Für Hofmänner steht zweifelsfrei fest: »Durch ihre staatstragende Funktion erfüllt die Wissenschaft die Anforderungen für einen eigenständigen, staatlichen Rechtssetzungsbereich« (ebd.). Der Wunsch wird hier zum Fakt und zum Programm. Hofmänner weiß: »Wissenschaft wird in der Schweiz (traditionell) als ein Wirtschaftsfaktor und nicht als staatstragende Institution wahrgenommen« (S. 95). Wissenschaftliche Forschung und die aus ihr hervorgehende technische Innovation standen deshalb folgerichtig stets im Fokus von Politik und Gesetzgebung. Dieser status quo ist gewiss hinterfragungswürdig. Hofmänner argumentiert, dass Wissenschaft nicht mit wissenschaftlicher Forschung gleichgesetzt werden dürfe. Sie sei dieser übergeordnet und umfasse neben wissenschaftlichen Institutionen und Verfahren (Peer-Review) auch Wissenstransfer (Lehre, Kommunikation) und die wissenschaftliche Politikberatung. Für sie ist die heutige Schweizer Wissenschaftsordnung ein historisch gewachsener Flickenteppich, ohne Gesamtkonzept, Systematik und richtige Orientierung. Der stark dezentrale, föderalistische Aufbau der Schweiz ist für sie der größte Stolperstein für die zentrale Bereitstellung von Wissen und eine fruchtbare Weiterentwicklung von Wissenschaft und Staat: »Daslabyrinthische rechtliche Ordnungsgefüge vernebelt den Blick auf die grundsätzliche Frage, wie die Beziehung von Staat und Wissenschaft geregelt ist« (S. 30).
Ihr Fazit lautet: Der Begriff der Wissenschaft muss neu im Grundrechts- und Aufgabenteil der Bundesverfassung (Art. 20 und 64) verankert werden. Diese Neuerung ermächtige den Bund, eine nationale Wissenschaftspolitik zu betreiben, was die geltende Aufgaben- und Verantwortungsteilung zwischen Bund und Kanton ihm bislang stets verwehrt hat. Ferner sei die Grenze zwischen wissenschaftlicher Selbstbestimmung und staatlicher Steuerung der Wissenschaft neu zu ziehen und – last but not least – die wissenschaftliche Politikberatung zu regeln und zu fördern.
Eine Reform welcher Art?
Wie Wissenschaft sich selbst versteht, wie sie sich ihrer Grundlagen, Prinzipien und Grenzen vergewissert, kurz: welchen Begriff sie von sich selber hat, ergründet Hofmänner erstaunlicherweise nicht. Ebenso wenig, wie die von ihr anvisierte Wissenschaft es z.B. mit dem Methodenpluralismus hält, oder ob die vorgeschlagene Neuregelung der Wissenschaftsfreiheit sich auch dazu ermächtigen solle, wissenschaftliches von nichtwissenschaftlichem Wissen autoritativ zu scheiden. Die Leuchtkraft ihres obersten Leitsterns »Wissenschaft« bleibt deshalb seltsam blass und die möglichen Folgen des intendierten Paradigmenwechsels für die Gesellschaft schwer fassbar. Das ist umso verwunderlicher, weil »wissenschaftliche Politikberatung« ein Stück weit auch ein antizipatorisches Wissen von der Wirksamkeit politischer Maßnahmen vermitteln möchte. Das leistet die Autorin hier jedoch nicht.
Diese Lücke birgt Gefahren, die nicht zu unterschätzen sind. Ein Beispiel aus der Nachführung der Bundesverfassung 1998 kann dies veranschaulichen: Wirtschaftswissenschaftler wollten damals eine Systementscheidung zugunsten einer »Marktwirtschaft ohne Adjektive« erzwingen. Ihr Verständnis von Wirtschaft sollte in BV Art. 27 ›Wirtschaftsfreiheit‹ verankert und – weil der Kerngehalt von Grund- rechten eine absolute Schranke auch für den Gesetzgeber darstellt – unumkehrbar gemacht werden. Der Versuch, auf diesem Weg die reine Konkurrenzwirtschaft als alternativloses Wirtschaftsmodell für alle Zukunft festzuschreiben, wurde damals verhindert, sodass die Tür für eine Weiterentwicklung der sozialen Marktwirtschaft z.B. in eine stärker selbstverwaltete, assoziative Wirtschaft offenbleibt. Mit dieser Erfahrung im Hintergrund liegt die Frage nahe: Steht jetzt auf dem Feld der »Wissenschaftsfreiheit« ein ähnlicher Versuch bevor? Wird der Staat den Wissenschaftspluralismus verteidigen, um der Freiheit und Entwicklung der Wissenschaften und Gesellschaft willen? Oder ist erneut ein »Ende der Geschichte« angesagt? Wird der Staat es zulassen, dass die derzeit tonangebende, positivistische Wissenschaft ihr Paradigma datenbasierter Evidenz, das auf ihrem Gebiet sehr erfolgreich ist, als das einzig »wissenschaftliche« in der Verfassung festschreibt? Die Freiheit der Wissenschaft zu beanspruchen, um die Freiheit anderer Wissenschaften außer Kraft zu setzen, sie als Wissenschaftler und Menschen abzuwerten und auszugrenzen, zeugt jedenfalls nicht von wirklich freiheitlicher Gesinnung und Wahrheitssuche, sondern eher vom Willen zur Macht, der jedoch Trieb und nicht etwa menschlicher Wille ist. Wird dieser Trieb künftig zum Kern moderner Lebensform?
Eine Verfassungsreform erscheint Hofmänner als der richtige Weg, um die in der Corona-Krise erneut aufgebrochene »Malaise Helvétique« 4 ursächlich zu beheben und die der Krise aufgerissenen Gräben zuzuschütten oder zumindest zu überbrücken. Sie plädiert für eine auf die Wissenschaftsordnung beschränkte Teilrevision. Durch Krisen erzeugte Spannungen sind bekanntlich kräftige Treiber, die brüchig gewordene, alte Normalität in eine neue zu überführen. Dies kann unter dem Diktat der Ereignisse und den in ihnen waltenden Sachzwängen geschehen. Eine Krise kann aber auch zu einem Aufwachen und Sich-neu-Gestalten gemäß den eigenen Anlagen und Aufgaben führen. Das ist wesentlich eine Frage des Mutes und zündender Ideen. Es ist das Verdienst von Hofmänner, mit ihrem Entwurf die Debatte über eine Verfassungsreform unserer Wissenschaftsordnung eröffnet zu haben.
Die große Stunde der Wissenschaft?
Ein wichtiger Meilenstein der Reflexion und Neuorientierung war eine Veranstaltung des ›Collegium Helveticum‹ der ETH Zürich zum Thema ›Die Stunde der Wissenschaft? Policy Making und Transdisziplinarität‹ 5 . Professor Matthias Egger, der erste Leiter der ›Swiss National Covid-19 Science Task Force‹ sowie Prof. Helga Nowotny, Vizepräsidentin des ›European Research Council‹, nahmen an dem Anlass teil, auf den Hofmänner verweist, ohne näher darauf einzugehen. Fassen wir kurz zusammen, welche Konsequenzen die Vertreter der einzelnen Fachdisziplinen aus ihren Erfahrungen mit der Pandemie für die künftige Zusammenarbeit untereinander sowie mit den Medien und der Politik hier gezogen haben:
Die Pandemie sei wahrhaft eine große Stunde der Wissenschaft gewesen. Sie habe schlagartig die Bedeutung der Wissenschaft für die Gesellschaft ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Zur Erfolgsgeschichte gehörten: Die rasche Sequenzierung des Covid-19-Genoms und die darauf folgende Entwicklung von Impfstoffen. 40.000 Studien und Artikel seien in den ersten Monaten erschienen, wovon allerdings etwa 90% wissenschaftlichen Standards nicht genügten. Dank beschleunigter (Pre-)Review-Verfahren konnte die Qualität etwas verbessert werden. Das kleine Virus habe einen großen Digitalisierungsschub ausgelöst. Eine Datenstrategie fehle zwar noch, um Daten (den Roh-stoff der Wissenschaft) weltweit besser zu bündeln. Ebenso müsse fachspezifisches Wissen interdisziplinär besser verknüpft und in transdisziplinäres Wissen integriert und verwandelt werden. Dazu brauche es nicht nur geeignete Methoden, Prozesse und Strukturen, sondern eine neue Art wissenschaftlichen Denkens. Wissenschaftliche Forschungsdesigns müssten lebensweltliche Fragen besser abbilden und sich im Vorfeld mit der Politik abstimmen. Zugunsten von Auftrags- und Ressortforschung auf wissenschaftliche Neugierforschung zu verzichten, wäre aber der falsche Weg.
Die Wissenschaftskommunikation hielten alle für eine große Herausforderung, weil die Medien aus ihrer paritätischen Logik heraus auch abweichenden wissenschaftlichen Auffassungen oft breiten Raum gewährten. Der Schweiz habe jemand gefehlt wie Christian Drosten, ein versierter Wissenschaftler und charismatischer Kommunikator, der die Bevölkerung aufkläre und zugleich beruhige. Ferner eine wissenschaftlich und demokratisch legitimierte Instanz wie das Robert Koch Institut, das vom wissenschaftlichen Konsens abweichende Meinungen (oft von Medizinern mit großer Nähe zu Patienten, aber wenig Ahnung von Statistik) öffentlich richtigstelle. Wissenschaftliche Kontroversen brauche es zwar, sie müssten aber stets die Spielregeln wissenschaftlichen Argumentierens beachten. Das unterscheide sie von verschwörungstheoretischen Anfeindungen und Verleugnungen, die einem geschlossenen Weltbild entsprängen, in sich durchaus konsistent seien, aber sich Fakten und Argumenten verweigerten und mithin ein Zerrbild von Wissenschaft darstellten. Hier gelte es vermehrt zu fragen, wie diese entstehen, wer ihre Erfinder sind und unter welchen Bedingungen sie sich ausbreiten.
Soll Wissenschaft politisch werden?
Die Politik erwarte klare Antworten. Mit temporärem Wissen und Ungewissheit könne sie schlecht umgehen. Sie müsse verschiedene Güter abwägen und Interessen ausgleichen, folge mithin ihrer eigenen, von der Wissenschaft abweichenden Logik. Ob eine Gesellschaft z.B. mit der Atomkraft leben wolle, sei eine politische, keine wissenschaftliche Frage. Die Wissenschaft könne Optionen aufzeigen und Argumente liefern, entscheiden müsse die Politik. Wissenschaftliche Aufklärung sei deshalb neu zu denken, die Politikberatung breiter aufzustellen und zu institutionalisieren, mehr auf Parlamente und Bevölkerung ausgerichtet statt auf Verwaltungen, damit das Verständnis für wissenschaftliche Anliegen und Leistungen in der Gesellschaft wachsen könne.
Wissenschaftliche Politikberatung aber umfasst, wie wir gesehen haben, mehr als bloß Beratung: neben Aufklärung der Bevölkerung und informellem Austausch mit Politikern und Mitarbeit in Expertengremien gehört auch eine direkte Mitwirkung in Politik, Verwaltung sowie an Protestaktionen dazu. In der Praxis ist dann oft schwer festzustellen, wo die Grenze verläuft zwischen wissenschaftlicher Kritik, Aufklärung und Beratung einerseits und herkömmlichem Lobbying, politischem Engagement und Aktivismus andererseits. Der (doppeldeutige) Begriff »Policy-making« drückt den politischen Gestaltungswillen heutiger Wissenschaftler jedenfalls besser aus als die etwas irreführende Bezeichnung »Beratung«.
Wann macht Wissenschaft selbst Politik – oder ist Wissenschaft immer auch Politik? Zuerst verschwimmen die Grenzen offenbar im Kopf, dann auch im Leben. Der grundlegende Unterschied zwischen einem der Wahrheitsfindung dienenden Erkenntnisgespräch und einem politischen Diskurs, der tragbare Kompromisse und sozialen Ausgleich anstrebt, ist verloren gegangen. Die Gründe dafür hier herauszuarbeiten, würde aber zu weit führen.6
Fazit: Hofmänner begreift die Corona-Krise als historisches Momentum und möchte dieses als Weckruf und Schubkraft zur Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Wissenschaft nutzen. Ihre anwendungsorientierte Forschung zeigt einen starken politischen Gestaltungswillen. Wie »Wissenschaft« und »wissenschaftliche Politikberatung« begrifflich genau zu bestimmen sind und welche Wirkungen und Nebenwirkungen die angestrebte, neue Wissenschaftsordnung für die Gesellschaft haben könnte, wird dagegen kaum reflektiert.
Die Aufarbeitung der Auswirkungen, welche die auf wissenschaftlichen Rat hin von der Politik ergriffenen Pandemie-Maßnahmen hatten, ist nicht ihr Thema. Ihre positivistisch-nominalistische Methode, die keine geistigen Einheiten kennt und deshalb den Menschen und sein schöpferisches Vermögen nicht zu erfassen vermag, wäre hierfür auch nicht sonderlich geeignet. 7 Viel erstaunlicher ist: Die problematische Abhängigkeit und Lenkung wissenschaftlicher Evidenz durch wirtschaftliche Interessen werden in ihrer Arbeit mit keinem Wort erwähnt. Besteht im Verhältnis von Wissenschaft und Wirtschaft aber nicht ein ebenso großer Klärungs- und Handlungsbedarf wie im Verhältnis von Wissenschaft und Staat? Warum diese brennende Frage nicht auch Bestandteil ihres Forschungsdesigns ist, begründet Hofmänner nicht. Ihre Diagnose der »Malaise Helvétique« bleibt deshalb selektiv und unvollständig, ihr Therapievorschlag ergänzungsbedürftig. Die von ihr vorgeschlagene neue Wissenschaftsordnung muss um diese Dimension erweitert werden. Sonst hat die angestrebte Verfassungsreform von Anfang an eine Schlagseite.
Erweiterte und vertiefende Perspektiven
Zum Abschluss ein Versuch, mit Hofmänner einen Schritt über sie hinauszugehen: Die Autorin begreift mit Niklas Luhmann die Wissenschaft als gesellschaftliches Teilsystem. Sie setzt Staat und Gesellschaft stets gleich und folgt damit unbemerkt dem einheitsstaatlichen Paradigma. Der Staat ist für sie das übergeordnete Ganze und kein gleichwertiges Teilsystem, wie Wissenschaft und Wirtschaft dies sind. Bemerken wir diese einheitsstaatliche Prägung und emanzipieren uns gedanklich von ihr (diese kritische Rückwendung auf sich selbst ist für Hofmänner ja eine wichtige Fortschrittskraft) – welche Gesichtspunkte ergeben sich dann für die rechtliche Neuordnung des brüchig und dysfunktional gewordenen Verhältnisses von Wissenschaft und Staat?
Die vorgeschlagene Verschiebung der Zuständigkeit weg von den Kantonen hin zum Bund ist keine wirkliche Lösung. Eine nationale Wissenschaftspolitik erleichtert zwar inter- nationale Kooperation und Koordination sowie das Einbringen wissenschaftlicher Evidenz in die politische Entscheidungsfindung. Sie erhöht aber zugleich die Gefahr der gegenseitigen Vereinnahmung von Wissenschaft, Staat und Wirtschaft und deren Interessen. Wissenschaft braucht Freiheit für ihre Wahrheitssuche und Entwicklung. Soll die angestrebte »Freiheit der Wissenschaft« im Leben real werden, sind Wissenschaft, Staat und Wirtschaft strukturell stärker voneinander zu trennen. Statt Zuständigkeiten untereinander anders zu verteilen, sollten Bund und Kantone die Wissenschaft aus ihrer Vormundschaft in die Selbstständigkeit entlassen, d.h. die Wissenschaft rechtlich ermächtigen, ihren Lebensbereich selber verantwortlich zu gestalten und zu verwalten. Eine neue Wissenschaftsordnung muss aus dem Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit auch die entsprechenden organisatorischen Konsequenzen ziehen und öffentliche Finanzierungsformen schaffen, welche Freiheit ermöglichen statt verhindern, damit die Wissenschaftsfreiheit gelebte Wirklichkeit werden kann und kein Papiertiger bleibt (vgl. BV Art. 35). Eine staatlich oder wirtschaftlich gelenkte Wissenschaft ist nicht frei.
Die heutige Teilautonomie ist eine Art Halbgefangenschaft. Zur politischen Freiheit mündiger Bürger in einer direkten Demokratie gehört, dass sie wesentliche Fragen ihres Zusammenlebens gemeinsam aushandeln, souverän entscheiden und dann auch die Folgen willig tragen. Wird die politische Agenda von Wissenschaft und Wirtschaft vorgegeben, so geschieht die politische Willensbildung nicht unabhängig. Eine gelenkte Demokratie aber ist eine Scheindemokratie oder verdeckte Tyrannis. Gesellschaftliche Verwerfungen sind unvermeidlich.
Die Wissenschaft ist heute bestrebt, ihr evidenzbasiertes Wissen wirksam in die Politik einzubringen. Neutral, als freilassender Rat? Oder wird daraus in Krisenzeiten letztlich doch ein kategorischer Imperativ oder gar die DNA des neuen Staates? Soll der Staat seine Kernaufgabe weiterhin erfüllen, muss auch er strukturell unabhängiger von Wirtschaft und Wissenschaft werden. Gerät der Staat dagegen schleichend unter deren Vormundschaft und haben global agierende Kapitalinteressen immer mehr das Sagen, so wird die mühsam errungene, politische Freiheit mündiger Bürger ausgehöhlt und in neofeudalistische bzw. Untertanenverhältnisse zurückverwandelt.8 Hofmänners Versuch, die Zeichen der Zeit zu lesen und nach den tieferen Ursachen der gesellschaftlichen Verwerfungen zu fragen, ist ein verdienstvoller Anfang einer überfälligen Exploration. Nicht nur das Verhältnis von Wissenschaft und Staat bedarf aber der Klärung und Neuordnung, auch das Verhältnis der Wissenschaft zur Wirtschaft (vom Verhältnis der Wirtschaft zum Staat ganz zu schweigen).
Dass dies nötig ist und vom Leben selbst gefordert wird, hat die Corona-Krise deutlich vor Augen geführt. Die »Malaise Helvétique«, das hat Hofmänner richtig erkannt, ist eine chronische Erkrankung unseres Landes, die immer wieder aufflammt, spürbar auch in der Corona-Krise, sich allmählich verschlimmert und in andere Krankheiten umschlägt, solange nicht deren tiefere Ursachen bewusst erfasst werden. Geschieht dies, wird die wahre Situation erkannt, dann kann die durchlittene Corona-Krise zu einem besonderen Aufwachmoment, einer Anagnoresis werden und zum Wendepunkt einer beginnenden Gesundung. Die Frage allerdings, wie diese Malaise bewusst zu erfassen und sinnvoll zu behandeln ist, wird die Schweiz noch lange beschäftigen.
Robert Zuegg ist Jurist mit Schwerpunkt auf Verfassungsfragen und Menschenrechte. Er war 2000 bis 2005 Zürcher Verfassungsrat und arbeitet als Mediator und Berater.
Fussnoten:
1 Dieses unabhängige, wissenschaftliche Beratungsgremium beurteilte laufend die epidemiologische Lage und gab Empfehlungen. Die Politik bediente sich ihrer Erkenntnisse oft nur selektiv, gerne jedoch zur Legitimierung politisch unpopulärer Entscheidungen mit der Aufforderung: »Follow the science«. Die ›Task Force‹ nahm ihrerseits des Öfteren zu politischen Massnahmen öffentlich Stellung, was zu starken Spannungen mit der Politik führte.
2 Heinz Nauer bringt in einem Beitrag auf dem SAGW-Blog vom 2. November 2022 dazu folgende Zitate: »Der Einfluss von Task Forces ist begrenzt, solange sie reine Beratungsgremien bleiben. Interessanter ist die direkte Mitwirkung von Wissenschaftlern in Politik und Verwaltungen.« (Marcel Salathé) »Für das, was wir jetzt brauchen, ist der begrenzende Faktor der politische Wille und nicht ein Mangel an Daten.« (Anais Talquin) www.sagw.ch/sagw/aktuell/blog/details/news/wissenschaft-politik
3 https://verfassungsblog.de/das-boeckenfoerde-diktum/
4 »Das Wort Malaise drückt eine immer weiter um sich greifende schweizerische Grundstimmung aus […] zwischen ungebrochener Zuversicht und nagendem Zweifel. Der Wille ist noch immer auf Bejahung gerichtet, aber es stellen sich ihm aus einem schwer durchdringbaren Halbdunkel entscheidende Hindernisse entgegen. […] Das selbstverständliche Einvernehmen mit dem politischen Umfeld und ihrer Form, der Demokratie, ist zerbrochen. Derartige Übergänge zwischen Bejahung und Verneinung sind bedrohlich. Sie verzehren die Kräfte des Einzelnen und lähmen die Tatkraft der Gemeinschaft. In der Ferne zeigt sich die Möglichkeit einer explosiven Entladung […]. Daraus folgt die Verpflichtung, Möglichkeiten zu suchen, die eine Heilung der schleichenden Krise versprechen.« – Max Imboden: ›Helvetisches Malaise‹, Zürich 1964, S. 5.
5 https://video.ethz.ch/speakers/collegium-helveticum/transdisziplinaritaet/pandemie.html
6 Vgl. Diether Lauenstein: ›Ich und Gesellschaft, Philosophische Soziologie‹, Stuttgart 1974, S. 222.
7 Auch die vom ›Kompetenzzentrum für New Public Management‹ der Universitäten Bern und Lausanne 2022 vorgelegte Vergleichsstudie der wissenschaftlichen Beratungssysteme in der Schweiz und in anderen Ländern abstrahiert davon. Das von Ständerat Ruedi Noser am 13. Juni 23 eingereichte Postulat fordert dagegen vom Bundesrat, die Wirksamkeit der Covid 19 Massnahmen (Lockdown, Covid Zertifikate, Impfdruck auf Kinder und deren Gesundheitsfolgen) aufzuarbeiten.
8 Vgl. Hannah Arendt: ›Die Freiheit, frei zu sein‹, München 2023.
9 Rudolf Steiner: ›Die Kernpunkte der Sozialen Frage‹ (GA 23), Dornach 1976, S. 140. Anregungen für eine vertiefte Bearbeitung dieser – nicht nur schweizerischen – Malaise finden sich in dem Buch von Udo Herrmannstorfer: ›Scheinmarktwirtschaft‹ (Stuttgart 1991) sowie in ›Die Kernpunkte der sozialen Frage‹ von Rudolf Steiner. Steiner hat die, wie wir oben gesehen haben, im Leben deutlich sich als Notwendigkeit anbahnende Dreigliederung des sozialen Organismus wie folgt auf den Punkt gebracht: «Dreigeteilt wird der vom Menschen abgesonderte, seinen Lebensboden bildende soziale Organismus sein; jeder Mensch als solcher wird ein Verbindendes der drei Glieder sein. Und er wird dadurch im vollen Sinne Mensch werden können.»
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