Volksabstimmung in der Schweiz vom 22. September 2024 zur Reform der beruflichen Vorsorge (BVG-Reform)
Von Béla Szoradi
Ausgangslage
Am 22. September 2024 entscheiden die Stimmbürger in der Schweiz über die Reform der beruflichen Vorsorge (BVG-Reform). Gemäss Angaben der Bundeskanzlei zielt die Reform darauf ab, die Finanzierung der 2. Säule zu stärken, das Leistungsniveau insgesamt zu erhalten und die Absicherung von Personen mit tiefen Einkommen sowie Teilzeitbeschäftigten zu verbessern. Gegen die Reform hat der Schweizerische Gewerkschaftsbund erfolgreich das Referendum ergriffen, weshalb darüber abgestimmt wird.
Die Alterssicherung in der Schweiz beruht auf dem sogenannten 3-Säulen-Prinzip:
- Säule: Die staatliche, obligatorische, umlagefinanzierte Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) sichert den Existenzbedarf im Alter oder im Todesfall. Sie ist eine eigentliche Volksversicherung.
- Säule: Die private, teilobligatorische, kapitalgedeckte berufliche Vorsorge (geregelt im Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge BVG) soll den Versicherten die Fortsetzung ihrer bisherigen Lebenshaltung in angemessener Weise ermöglichen. Sie strebt dabei das Ziel an, mit der AHV (1. Säule) zusammen ein Renteneinkommen von rund 60 Prozent des letzten Lohnes zu erreichen. Das BVG selber definiert nur Mindestleistungen für das Alter, im Todesfall und bei Invalidität. Die Vorsorgeeinrichtungen sind frei, auch über das vom Gesetz geforderte Minimum hinauszugehen. Das BVG-Obligatorium gilt für alle Arbeitnehmer, die schon in der 1. Säule versichert sind und mindestens 22’050 Franken pro Jahr verdienen.
- Säule: Mit der staatlich geförderten, jedoch privaten Vorsorge sollen zusätzliche individuelle Bedürfnisse gedeckt werden. Sie ermöglicht es den Erwerbstätigen, einen bestimmten Betrag auf ein Bankkonto oder in eine Lebensversicherungspolice einzuzahlen. Diese Einzahlungen können vom steuerbaren Einkommen abgezogen werden. Das angesparte Geld bleibt – mit gewissen Ausnahmen – bis zur Pensionierung blockiert. Dann wird es ausbezahlt und kann frei verwendet werden.
Bereits am 3. März 2024 haben die Stimmbürger in der Schweiz über zwei Volksinitiativen zur Alterssicherung abgestimmt: Über die Initiative für eine 13. AHV-Rente, und über die Initiative zur Erhöhung des Renteneintrittsalter auf 66 Jahre. Die erste Initiative wurde angenommen, die zweite abgelehnt. Zu diesen Initiativen, insbesondere über die erste wurde an dieser Stelle eine ausführliche Analyse und Abstimmungsempfehlung verfasst, mit Blick auf die generelle Konzeption und Lage der Altersvorsorge in der Schweiz. Darauf soll hier nochmals ausdrücklich verwiesen werden, denn die generellen Erwägungen dort gelten auch für die vorliegende Reform.
Perspektive der Dreigliederung
Zwar soll das Wirtschaftsleben aus seiner Produktivität auch für ein angemessenes Einkommen derjenigen Menschen sorgen, die nicht am Arbeitsleben teilnehmen können. Das diesbezügliche Recht auf Lebensunterhalt wird aber durch das Rechtsleben bestimmt: So regelt das Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge BVG die Minimalanforderungen für die obligatorische, aber private berufliche Vorsorge, weshalb die Abstimmungsfrage als zulässig erscheint.
Inhaltliche Beurteilung
Bei einer kapitalgedeckten beruflichen Vorsorge wird Kapital angespart, und damit die Rente im Alter gedeckt.
Das angesparte Kapital wird also als regelmässige Altersrente ausbezahlt (insofern es nicht als Ganzes bei Erreichung des Rentenalters bezogen wird).
Hierbei kommt ein sogenannter Umwandlungssatz zur Anwendung: Für den obligatorischen Teil der beruflichen Vorsorge (Minimalanforderung) gilt gemäss BVG seit Einführung ein gesetzlicher Umwandlungssatz von 6.8 %. Das heisst, dass beispielsweise Fr. 100’000.- Renten-Kapital in eine jährliche Rente von Fr. 6’800.—«umgewandelt» wird. Im überobligatorischen Bereich sind die Pensionskassen frei, wie hoch sie ihren jeweiligen Umwandlungssatz festlegen wollen, unter der Voraussetzung, dass der obligatorische Teil nicht tangiert wird. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten wurden die Umwandlungssätze des überobligatorischen Teils von ursprünglich 6.8 % laufend gesenkt auf verbreitet um die 5.3 %. Indem die Pensionskassen eine Mischrechnung zwischen obligatorischem und überobligatorischem Teil machen, können sie einen tieferen Gesamt-Umwandlungssatz als 6.8 % festlegen, während der obligatorische Teil formell bzw. rechnerisch bei 6.8 % bleibt, mit entsprechender Rentengarantie. Das heisst, die Rentengarantie des gesetzlichen Minimums des obligatorischen Teils begrenzt Senkungen des überobligatorischen Teils bis auf diese Rentengarantie.
Begründet wurden die erwähnten Senkungen jeweils insbesondere mit der steigenden Lebenserwartung, aber auch mit sinkenden Kapitalerträgen an Börsen und Märkten.
Bei der vorliegenden Reform soll jetzt auch der obligatorische Teil gesenkt werden: Von 6.8 % auf 6%. Dies wollten Regierung, bürgerliche Parteien, Unternehmen und Pensionskassen schon lange, nur ist es deutlich schwieriger, gegen grossen politischen Widerstand im Volk eine gesetzliche Anpassung durchzubringen. Dies soll jetzt wieder einmal versucht werden. Falls die Senkung durchkommt, erhöht sich für die Pensionskassen zusätzlich der rechnerische Spielraum für weitere Senkungen im überobligatorischen Bereich, infolge der erwähnten Mischrechnung.
Die mit der Senkung einhergehenden Renteneinbussen sollen mit Ausgleichsmassnahmen abgefedert, und damit annehmbar gemacht werden. Zentrale Punkte dieser Ausgleichsmassnahmen sind die Erweiterung des obligatorisch versicherten Lohnes, was sich indes nur bei tiefen Einkommen auswirkt, und dort zu mehr Rente führt, was aber mit entsprechenden zusätzlichen Lohnabzügen finanziert werden muss. Sowie ein Rentenzuschlag für die Übergangsgeneration von Fr. 200.—pro Monat, lebenslang.
Die vorliegende Senkung des obligatorischen Umwandlungssatzes wird, wie immer, auch jetzt wieder mit «tieferen Erträgen an den Finanzmärkten» und mit der «steigenden Lebenserwartung» begründet, während auf die positiven Auswirkungen der «Ausgleichsmassnahmen» hingewiesen wird, insbesondere darauf, dass sich die Pensionskassenrente von Personen mit tiefem Einkommen verbessert (insbesondere Frauen), bzw. dass diese überhaupt erst Zugang zu einer Pensionskasse erhalten. Unterschlagen wird hierbei, dass der Staat hierbei von dieser Reform profitiert, muss er doch entsprechend weniger Ergänzungsleistungen zahlen bei zusätzlichen Pensionskassenrenten im Niedriglohnsektor…
Die 2. Säule, das System mit den kapitalgedeckten Pensionskassen, führt dazu, dass sich riesige Vermögen in den Pensionskassen ansammeln, die verwaltet und angelegt werden müssen. Dafür stellen Banken, Versicherungen, Beratungs- und Treuhandunternehmen Vermögensverwaltungskosten in Rechnung, die teils exorbitant hoch sind, weshalb sich die sog. «Finanzindustrie» bereits daran eine goldene Nase verdient. So bezeichnet der ehemalige Preisüberwacher Rudolf Strahm das Pensionskassensystem als «Selbstbedienungsladen» für Banken und Hedgefonds und kritisiert die jährlichen Verwaltungskosten der Pensionskassen von 8.6 Milliarden Franken, wovon 80 Prozent allein die Vermögensverwaltung im Finanzsektor «verschlinge». (1)
Durch die Anlage dieser Vermögen über die Börse (Obligationen und Aktien) sowie im Immobiliensektor werden die Preise in diesen Bereichen nach oben getrieben, und ermöglichen denjenigen, die professionell an diesem System teilnehmen können, hohe Gewinne. Nachdem diese Gewinne an der Börse durch die professionellen Spekulanten realisiert wurden (heisst, die Aktien und Obligationen mit Gewinn verkauft wurden), bleiben die Pensionskassen dann auf den durch sinkende Kurse verursachten buchhalterischen Verlusten sitzen. Gesetzliche Vorgaben und eine sekundierende Presse, die immer über die Schieflagen der Pensionskassen, über die erwähnten «tieferen Erträge an den Finanzmärkten» jammert, zwingen die Pensionskassen zu sog. «Sanierungsrunden», was dazu führt, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber über die Sanierungsbeiträge die Börsengewinne nachträglich ausfinanzieren, und zu neuem Preisdruck beitragen, so dass sich das Karussell von neuem zu drehen beginnen kann. Den gleichen Effekt haben Sanierungen in Form von Senkungen der Umwandlungssätze und Senkungen der Zinsen auf das gesparte Kapital. Mit dieser indirekten Alimentierung des Finanzsystems werden die Pensionskassenteilnehmer dazu gezwungen, sich ihre Rente indirekt und unbewusst noch einmal zusätzlich zu finanzieren. Der gleiche Effekt nochmals im Immobiliensektor: Auch dort führt der enorme Preisdruck dazu, dass die Arbeitnehmer über die hohen Immobilienpreise und Mieten ihre zukünftigen Renten noch ein zweites Mal zusätzlich ausfinanzieren müssen. Dazu kommt noch ein weiterer gravierender Systemmangel, der die erwähnte Umverteilung noch verstärkt: Die Pensionskassen sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet, bestehende Renten an die Teuerung anzupassen. Ein weiterer schleichender Rentenabbau.
Mit dem Argument der steigenden Lebenserwartung behauptet die Mainstreampresse eine steigende Umverteilung von jung zu alt, und unterschlägt damit die eben aufgezeigte, viel grössere Umverteilung von arm zu reich. Wobei seit mehreren Jahren auch keine weitere Steigerung der Lebenserwartung mehr beobachtet werden kann.
Selbst die Mainstreampresse, die sonst immer diese Umverteilung nach Kräften unterstützt, musste im Zuge der öffentlichen Diskussion eingestehen, dass die öffentliche Hand ihre Prognosen konstant so schlecht wie nur möglich hält: Siehe dazu insbesondere die Berichte über die Fehlprognosen des Bundes bei der AHV im Vorfeld der Abstimmung über die Erhöhung des Rentenalters für Frauen auf 65. Es erscheinen jetzt mehr kritische Berichte, die darauf hinweisen, dass die Auswirkungen der vorliegenden Reform völlig unklar sind. So wird heftig darüber gestritten, inwiefern überhaupt einkommens- und vermögensarme Bevölkerungssegmente sowie Frauen mehr Rente erhalten werden, während alle mehr Beiträge leisten müssen. Ein besonders instruktives Beispiel für diese verworrene Diskussion ist das Interview der NZZ mit der Rentenchefin des Gewerkschaftsbundes, Gabriela Medici. (2)
Aktuell weist das VZ Vermögenszentrum darauf hin, dass in den letzten 20 Jahren die Pensionskassenrenten um 40 Prozent gesunken sind. (3) Ein weiterer wichtiger Hinweis im Sinne dieser Ausführungen liefert das kritische Nachrichtenportal «infosperber»: «Ausgangspunkt für die Revision war nämlich eine historisch einmalige ertragsarme Negativzinsphase (2014 – 2022) in den letzten Jahren. Doch seit der Zinswende geht es den Pensionskassen wieder bestens. Daher braucht es keinen unsozialen Rentenabbau, sondern Rentenerhöhungen.» (4)
Fazit: Ein weiterer Versuch eines nicht wirklich begründeten, und vermutlich auch nicht begründbaren Rentenabbaus in einem intransparenten, monströsen Umverteilungssystem von arm zu reich.
Eine wirkliche Lösung kann nur in einer einheitlichen, umlagefinanzierten Vollversicherung gesehen werden, die durch die wirtschaftenden Menschen in ihren Unternehmen jeweils geschaffen und solidarisch verantwortet werden, unter Einhaltung von gesetzlich vorgegebenen Mindestvorschriften zur Sicherung der Menschenwürde.
Solange sich kein mehrheitsfähiger gesellschaftlicher Wille in diese Richtung bildet, können wir für Reformen wie die vorliegende nur ein «Nein» empfehlen!
Anmerkungen:
(1) «Rudolf Strahm will den «Selbstbedienungsladen» ausmisten», Blick vom 2. August 2024, Seite 2
(2) «Diese Vorlage ist ein schlechter Witz, sie wird die Probleme noch verschärfen», NZZ vom 3. August 2024
(3) «Vorsorgeloch: Renten sind um 40 Prozent gesunken», 20Minunten vom 20. August 2024, Seite13
(4) «BVG-Reform: Verfallsdatum abgelaufen», infosperber vom 7. August 2024
Danke; Bela, für diese hilfreichen Gedanken!!