Warum die Neutralitätsinitiative (unter anderem) zu kurz greift
Von Istvan Hunter
Die Schweizerische Neutralität wird im internationalen Kontext häufig als Paradebeispiel angeführt. Dank ihr gelinge es der Schweiz sich aus internationalen Konflikten herauszuhalten und dabei eine rühmliche Vermittlerrolle einzunehmen. Gleichzeitig wird die Neutralität von Schweizer Politikern zunehmend in Frage gestellt. Einerseits wird eine Erweiterung, bzw. Anpassung des Neutralitätsbegriffs gefordert1. Andererseits wird das Festhalten an ihrem bisherigen Begriff von Neutralität sogar als unanständig bezeichnet. Der russische Angriffskrieg erfordere ein Umdenken der Neutralität2.
Die Schweiz im Einflussbereich der angelsächsischen Imperien
Mit dem Sieg Englands über Napoleon 1815, seinem wachsenden Einfluss auf Kontinentaleuropa und einer europaweiten Nationalstaatenbildung, wurde die Schweiz immer mehr in den westlich-angelsächsischen Einflussbereich hineingezogen. Da das angelsächsische Imperium mehr und mehr die wirtschaftlichen und geopolitischen Bedingungen in Europa diktierte, konnte sich auch die Schweiz diesem nicht entziehen. Gegen den Widerstand der kontinentaleuropäischen Mächte Russland, Preussen, Frankreich und Österreich unterstützte England schliesslich die Gründung eines Schweizer Bundesstaates 18483. Gleichzeitig setzten sich auch in der Schweiz die progressiv-liberalen Kräfte durch, welche eine Liberalisierung der Wirtschaft, eine Vereinheitlichung der Gesetzgebung, Aussenpolitik und der Grundrechte in der Schweiz anstrebten. Damit geriet die Schweiz mehr und mehr unter den Einfluss der geopolitischen Bedingungen, die nun England und später dann die USA diktieren würden.
Ein neutraler Bundesstaat
Im Deutsch-Französischen Krieg und unter dem Einfluss Henry Dunants begründete sich die humanitäre Tradition der Schweiz im Krieg. Umgeben von Grossmächten verhielt sich die Schweiz seit Begründung des Bundesstaates 1848 zumeist neutral. Trotzdem konnte sich die Schweiz im Ersten Weltkrieg auch parteiisch verhalten. Zum Beispiel gegenüber dem Deutschen Reich. Sie begünstigte es informationstechnisch und stellte sich ideologisch weitgehend auf seine Seite. Die Schweizerische Neutralität wurde durch den Armeestab in Frage gestellt, und auch gemäss Haager Abkommen mehrfach gebrochen und zwar durch eindeutige Parteinahme für das Deutsche Reich4.
Im Zweiten Weltkrieg distanzierte sich die Schweiz ideologisch vom Dritten Reich. Gleichwohl fanden umfangreiche Waffengeschäfte mit seinem Aussenhandelspartner statt, sowie Devisenhandel und Goldtransaktionen. Amerikanische Geheimdienste nutzten die Schweiz als Operationsbasis, während sich das Deutsche Reich die Alpentransversale sicherte. So fanden konstant Kriegsmaterialtransporte durch die Schweiz statt, während an der deutschen Grenze Kampfflugzeuge der Wehrmacht abgeschossen wurden. Auch hier ging es keineswegs um moralische Fragen. Die Schweiz war vom Deutschen Reich eingeschlossen. Sie war existentiell auf Rohstoffe für Ihre Wirtschafts- und Nahrungsmittelproduktion angewiesen. Trotzdem schienen Schweizer Verteidigungsbereitschaft und Reduitplan ebenfalls eine Rolle dafür zu spielen, dass die Schweiz nicht angegriffen wurde5.
Auch im Kalten Krieg stellte sich die Schweiz ideologisch und militärpolitisch auf die Seite des Westens6. Die Schweiz probt den Ernstfall seither für eine Invasion aus dem Osten, und nicht aus dem Westen. Geheimdienste und Militär vernetzten sich logistisch und strategisch mit westlichen, allen voran angelsächsischen Geheimdiensten.
Zur neutralitätspolitischen Lage:
- Ideologisch, militärisch und wirtschaftlich ist die Schweiz seit 300-400 Jahren dem französischen und seit spätestens 1848 dem westlich-angelsächsischen Einfluss hingegeben
- Die Schweiz wird momentan rein informationstechnisch in die NATO einbezogen. Der Einfluss, den die USA über die NATO nehmen wird jedoch grösser. Hiesige Politiker kommen der NATO zunehmend entgegen (siehe Viola Amherds NATO Annäherung).
- Wenn sich die Schweiz militärisch gegen denjenigen Aggressor wappnen würde, von dem die grösste Gefahr für den Weltfrieden ausgeht, müsste sie sich wahrscheinlich russische Abwehrraketen kaufen und Atombomben, um die USA fernzuhalten, aber sicher keine F 35 Kampfjets.
- Da die Schweiz jedoch weit stärker von den USA, als von Russland abhängig ist, und die USA für sie eine Bedrohung ist, die deutlich gravierender werden kann, wird sie dies kaum tun
- Eine Besetzung der Schweiz im Rahmen eines europäischen Krieges erscheint unwahrscheinlich. Wozu wäre sie nötig?
- Sollte ein eurasiatisch-europäischer Konflikt wirklich auf Mitteleuropa übergreifen, würde eher eine strategische Zerstörung der Schweizer. Verkehrsachsen, Nachschubwege und Waffenfabriken drohen, als eine Besetzung
Fazit: Schweizer Neutralität als Mittel zum Zweck
Schon die Tagsatzung vor dem Bundesstaat definiert Neutralität als reines Mittel zum Zweck, und nicht als unverrückbare ewige Leitlinie! Sie wird seit der Bundesstaatsgründung 1848 in den Kompetenzartikeln der Bundesversammlung festgehalten-, gleichzeitig werden kantonale Militärbündnisse mit dem Ausland verboten. Auch in der Moderne verhielt sich die Schweiz immer ähnlich: Beteiligung an Wirtschaftssanktionen (bereits 1951, sowie danach, beteiligte sich die Schweiz beispielsweise an Wirtschaftsembargos gegen die UDSSR), Nicht-Beteiligung an Kampfhandlungen, Überflug- und Transitverbote, lockere und parteiische Handhabung der Kriegsmaterialausfuhr, entsprechend ihrer wirtschaftlichen Interessen.
Die Verfestigung der Neutralitätsvorstellungen ergab sich erst mit der Kodifizierung der Neutralität im 5. und 8. Haager Abkommen von 1907. Danach ist dem Neutralen verboten:
- Dem Kriegführenden Truppen oder Operationsbasen zur Verfügung zu stellen
- Den Durchmarsch zu gestatten
- Aus staatseigenen Betrieben Kriegsmaterial zu liefern
- Staatskredite für Kriegszwecke zu gewähren
- Militärische Nachrichten zu übermitteln
- Kriegführende sind auf seinem Gebiet abzuwehren, bzw. zu internieren
- Voraussetzungen der Neutralität
Es ergibt sich zweifellos aus dem vorhergehenden, dass es nicht reicht die Neutralität ein weiteres mal in der Bundesverfassung zu verankern. Schon gar nicht mit den in der Neutralitätsinitiatve vorgesehenen Ausnahmen für die UNO7.
Wer wirklich über Neutralität diskutieren möchte, sollte die wirtschaftlichen und realpolitischen Abhängigkeiten thematisieren und nicht von moralischen und idealpolitischen Grundsätzen träumen. Man beachte in diesem Zusammenhang das Aussenhandelsvolumen der Schweiz mit den USA und der EU verglichen mit demjenigen Russlands. Insbesondere die Abhängigkeiten, die zum europäischen und amerikanischen Wirtschaftsraum bestehen. Das sind die entscheidenden Faktoren, die die eigene Neutralität beschränken. So ist anscheinend der Schweizer Bundesrat auch dazu gekommen die Sanktionen der EU gegen Russland zu unterstützen8. Die USA, sowie Schweizer Grossbanken hätten auf den Bundesrat Druck ausgeübt, weil für sie das lukrative US-Geschäft in Gefahr war. Die US-Regierung habe mit Sanktionen gedroht, sollte die Schweiz nicht einlenken9. Wo ist die Diskussion über diese Zusammenhänge? Auch in der Bürgerrechtsbewegung?
Wir haben gesehen, dass Neutralität immer Mittel zum Zweck war. Immer aus der pragmatischen geopolitischen Gemengelage entstand. Es ging nie um Moral, sondern immer um geopolitische Vorteile und das eigene Überleben als Kleinstaat. Je nach dem wurde Neutralität umdefiniert. Neutralität als solche ist kein Selbstzweck. Sie bedeutet zunächst einfach, dass man sich zurückhält, um nicht in Konflikte hineingezogen zu werden, in denen man unterliegen könnte.
Lösung durch Dreigliederung des sozialen Organismus
Letztlich bietet nur die Dreigliederung eine nachhaltige Lösung für die Neutralität an, da sie dazu führen würde, dass sich die Politik grundsätzlich aus der Einmischung in wirtschaftliche Zusammenhänge heraushält. Im Sinne der Dreigliederung sind wirtschaftliche Fragen innerhalb der Wirtschaft zu lösen und nicht durch Staatsinterventionen. Banken- und Industrielobbys haben sich aus dem Parlament zurückzuziehen. Den USA und der EU könnte dann im Ernstfall bestellt werden, dass die Schweiz für die Wirtschaftspolitik der Grossbanken keine Verantwortung trägt. Es sind die freien, wirtschaftlichen Zusammenhänge selbst und der – den USA so wichtige «freie Markt»-, die darüber entscheiden, wo Grossbanken und Finanzindustrie investieren und mit wem sie Geschäfte machen. Das wäre schlussendlich auch die einzige konsequente Haltung in Bezug auf die Neutralität. Sich in wirtschaftlicher Hinsicht staatspolitisch wirklich neutral zu verhalten, statt ständig als Anwalt wirtschaftlicher Interessen die Konflikte geopolitisch mitzutragen und so zu verschärfen.
Indem der Staat sich für die Blockierung von Wirtschaftsbeziehungen mit Russland einsetzt, verliert er nicht nur seine Neutralität, er macht sich auch selbst zum Sklaven wirtschaftlicher Interessen des In- und Auslands.
Das aber ist das Thema, das eigentlich diskutiert werden müsste: Welche wirtschaftlichen Einbussen sind wir bereit hinzunehmen, um die Neutralität der Schweiz auch in geopolitischen Fragen zu verteidigen? Welchen Einfluss haben die Lobbygruppen der Grossbanken auf das Schweizer Parlament? Welche Politiker legen sich mit ihnen an? Und wie können wir das Wirtschaftsleben konsequent entpolitisieren?
Lesehinweis zur Vertiefung des Themenkomplexes:
Internationale Lebensnotwendigkeiten und soziale Dreigliederung. Rudolf Steiner, 1919.
1 https://www.nzz.ch/schweiz/gegen-das-zoegern-und-zaudern-ein-gruppe-intellektueller-proklamiert-eine-neutralitaet-fuer-das-21-jahrhundert-ld.1832606
2 https://www.nzz.ch/meinung/ab-wann-wird-neutralitaet-unanstaendig-schweiz-ld.1755820
3 Heinrich Theodor Flathe: Das Zeitalter der Restauration und Revolution 1815–1851. (= Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen. Vierte Hauptabteilung, Zweiter Teil). Grote, Berlin 1883, S. 484.
4 Siehe S. 2, unten: Haager Abkommen
5 Mächler Joseph, Wie sich die Schweiz rettete, Pro Libertate 2017
6 https://transition-news.org/wo-sind-die-schweizer-politiker-mit-ruckgrat
8 https://www.handelszeitung.ch/politik/putin-im-visier-der-schweiz-auf-druck-der-eu-und-usa
9 https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2023/nr-13-13-juni-2023/wer-hat-angst-vor-der-neutralitaetsinitiative
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