Istvan Hunter

Am 1. Sonntag im Mai findet traditionell die Landsgemeinde in Glarus statt. Wir konnten dort als «Auswertige» auf der Zuschauertribüne dem Spektakel, der seit Jahrhunderten bestehenden direktdemokratischen Landsgemeinde, beiwohnen. Interessant war es auf jeden Fall zu erleben, wie Abstimmungen, auch mit einigen Tausend Menschen in einem kleinen Kanton, «direkt und physisch» stattfinden können.

Die Landsgemeinde beginnt dabei stets mit dem Auszug der Regierung, begleitet von einer Musik-Kapelle und einer Ehrenformation der Armee, vor dem Rathaus. Ein Mitglied derselben trägt dabei ein grosses Schwert als Symbol für die Gerichtsbarkeit. Auf dem Zaunplatz angekommen, versammeln sich alle stimmberechtigten Bürger und Bürgerinnen im sogenannten Ring, auf einer Holztribüne, mit ihrem Stimmrechtsausweis. Die Landsgemeinde ist eine Versammlung aller stimmberechtigter Bürgerinnen und Bürger des Kantons Glarus, die über Gesetzes- und Verfassungsänderungen, sowie über die Höhe des Steuersatzes berät und abstimmt bzw. «rät, mindert und mehrt». Zudem werden die kantonalen Richter sowie der Landammann an der Landsgemeinde gewählt (bis 1971 auch die Kantonsregierung). Neben dem Stimmrecht besitzt jeder Stimmberechtigte auch das Recht, das Wort zu einer Vorlage zu ergreifen und Abänderungsanträge zu stellen. Das älteste Zeugnis einer Versammlung zu den Landessatzungen stammt von 1387. Als Grundlage für die Durchführung der Landsgemeinde dient das vom Parlament vorberatene Memorial, das jedem Haushalt mit dem Stimmrechtsausweis zugestellt wird; dieses Jahr handelte es sich um eine 196-seitige Broschüre mit Erläuterungen zu 12 Sachgeschäften. Die Stimmabgabe erfolgt an der Landsgemeinde durch das Hochhalten des Stimmrechtsausweises. Das grössere «Mehr» wird vom Landammann durch Abschätzen ermittelt; im Zweifelsfall zieht er die vier weiteren Mitglieder des Regierungsrates bei. Wenn auch diese kein eindeutiges Mehr ausmachen können, entscheidet der Landammann, nach einer ungeschriebenen Regel, gegen den Antrag der Regierung. Seine Entscheidung ist schliesslich endgültig und unanfechtbar.

Einige Gespräche mit der lokalen Bevölkerung ergaben unter anderem, dass diese sich nicht einig darüber ist, wie «demokratisch» das Vorgehen an der Landsgemeinde ist. Der eine Bürger meinte, es liege nur an der Bevölkerung… Ob diese die Vorlagen auch wirklich lesen würde, und ob sie erscheine um abzustimmen, sei entscheidend. Er musste jedoch zugeben, dass die Resultate durchaus von der objektiven Berichterstattung der Medien und von der Durchführung der Beschlüsse durch die Regierung abhingen. Dies sei nicht immer gewährleistet. Es würde manchmal auch manipulativ Einfluss genommen auf die Stimmbürger. So bei der bekannten Abstimmung über die Fusionierung von Glarus zu nur noch drei Gemeinden, 2007. Man hoffe, dass die Regierung schlussendlich das tue, wozu sie gewählt werde.

Ein anderer Stimmbürger betonte, dass er Zweifel an der Objetivität der Abstimmungsresultate habe. Auch, dass viele dadurch benachteiligt würden, dass gar nicht alle anreisen könnten. Er hielt eine briefliche Stimmabgabe für demokratischer. Die Beteiligung von rund 30 Prozent der Stimmberechtigten des Kantons an der Landsgemeinde Glarus entspricht dabei wohl nicht ganz der Stimmbeteiligung bei Urnenabstimmungen in anderen Kantonen.

Wir wollten wahrnehmen: “Ist der Kanton Glarus dadurch demokratischer als andere Kantone? Kann man dort Dinge tun, die woanders nicht möglich sind?”

So ging es unter anderem an diesem Abstimmungssonntag um den Memorialsantrag Bildungsgutscheine. (Schulwandel jetzt! – Fördergesellschaft Demokratie Schweiz). So verlangte dieser die «Schaffung von Bildungsgutschriften». Damit sollte gewährleistet werden, dass alle Kinder ein Bildungsangebot erhalten, welches ihren Bedürfnissen entspricht. Laut den Initianten der «Schulwandel Stiftung» «könne nur so das Bildungssystem in der Schweiz gewandelt und Volksschulen, Familien und Lehrpersonen langfristig entlastet werden». Unter Bildungsgutschrift kann man das Geld verstehen, welches ein Kind durchschnittlich in seiner Schulstufe an einer öffentlichen Schule kostet. (Im Kanton Zürich zum Beispiel durchschnittlich, 27000 CHF pro Kind und Jahr.) Dieses Geld könnte in Zukunft theoretisch durch einen Bildungsgutschein beim Wechsel an eine Privatschule mit dem Kind mitfliessen.

So konnten wir im Rahmen der Abstimmung einige spannende Diskussionen darüber führen, ob und inwiefern eine solche Schaffung von Bildungsgutschriften mit der Dreigliederung zusammenginge. Es wäre vieles dazu anzuführen, inwiefern der Antrag auf Bildungsgutschriften das richtige Mittel zur Emanzipation des Geisteslebens vom Staat darstellt. Aber auch zur Form der Abstimmung wäre vieles zu sagen.

Zu letzterem so viel: Der Antrag schien ungenügend in der Bevölkerung vorbereitet. Er hatte zu wenig Unterstützer, die Medien berichteten unzureichend und über einen zu kleinen Zeitraum darüber. Auch hatten die Initianten anscheinend zu wenig Koalitionen geschlossen um zu zeigen, dass wesentliche Teile der Bevölkerung hinter dem Antrag stünden. Auf dem Podium an der Landsgemeinde sprachen dann sowohl Befürworter wie Gegner der Vorlage. Positiv äusserten sich unter anderem verschiedene Primarlehrer, dagegen, aber auch der Präsident des Schulleiterverbandes. Der Vorlage schien eine gewisse Brisanz zuzukommen. Waren verschiedene Voten doch getragen von entschiedener und auch gut begründeter Ablehnung. Der Initiant, Nils Landolt, wurde von der Regierung deutlich kritisiert und seine Motivation in Frage gestellt. Dass Regierung und Landammann klar dagegen waren, zeigte sich bei verschiedenen Gelegenheiten. Der Landamann (Vorsitzender der Kantonsregierung) störte sich gleich zu Beginn daran, dass so viele Redner zur Vorlage Stellung nehmen wollten, obwohl bei vorangegangenen Vorlagen ebenso viele Wortmeldungen abgegeben worden waren. Man spürte, er wollte bis 13:00 mit allen Geschäften zuende kommen. So leitete er den Antrag in der Vorrede negativ ein, und sorgte dafür, dass am Ende nochmals zwei Regierungsmitglieder die Vorlage kritisieren konnten. Auch durch die gegebenen Darstellung im 196 seitigen Abstimmungsbüchlein wurde nicht eben positiv zu der Vorlage Stellung bezogen. So wurde vor allem auf die höheren Kosten, die eigentliche Überflüssigkeit der Vorlage, und auf das bewährte System der Volksschule verwiesen. Der Tenor war: «wir können mit der Vorlage keines der bekannten Schulprobleme lösen, wir schaffen dagegen nur neue». Und zwar durch höhere Kosten und eine Planungsunsicherheit für die Volksschule. Insgesamt hielt man die Vorlage vor dem Hintergrund funktionierender Volksschulen für überflüssig.

Dies kommt im Memorial deutlich zum Ausdruck: (22501420_Landsgemeinde Memorial 2025.indd) «Die Gemeinden müssten die Abrechnungen der Bildungsgutschriften vornehmen und allenfalls neu Aufsichtsaufgaben wahrnehmen. Zudem müssten sie den Schulbetrieb flexibler und kurzfristiger planen, da nicht mehr einfach von der Zahl der Kinder auf dem Gemeindegebiet ausgegangen werden könnte. Die Gemeinden müssten zusätzlich zum ordentlichen Schulbudget die Kosten der Bildungsgutschriften übernehmen. Dabei kann auf der anderen Seite nicht von einer Einsparung ausgegangen werden. Eine wesentliche Ersparnis kann erst nach dem Wegfall einer ganzen Klasse erzielt werden. Die Gemeinden würden dem nach doppelt bezahlen: Den Kostenbeitrag an die Privatschule und den freien Platz an der Volksschule. Dies würde zu Mehrkosten führen und voraussichtlich Steuererhöhungen erfordern, die Personen mit und ohne Schulkinder betreffen. Abgesehen davon sind mit der Bildungsgutschrift nicht zwingend die gesamten Kosten der Privatschule abgedeckt. Den Rest würden wiederum die Eltern bezahlen müssen.»

So wurde die Vorlage mit grosser Mehrheit abgelehnt.

Es bleibt der Eindruck, dass an einer Veranstaltung wie der Landsgemeinde nur schwer innovative, neue Projekte angenommen werden können, wenn sie nicht zuvor gut in der Bevölkerung vorbereitet wurden. Viele Menschen sind sich der Beschränktheit des demokratischen Entscheidungsverfahrens bewusst, wenn es um Fragen des Geistes- und des Wirtschaftslebens geht. Sie stimmen daher im Zweifelsfall gegen Neuerungen, deren Relevanz und Auswirkungen sie nicht abschätzen können. Dies gilt umso mehr, wenn die Initianten nicht glaubhaft machen können, dass die Vorlage allen Bevölkerungsteilen gleichermassen zugute kommt. Der Ansatz des Initiators, Nils Landolt, hinterliess bei vielen vielleicht eher den Eindruck eines Einzelanliegens, das nicht von der Mehrheit der Bevölkerung getragen wurde. In der Bildungsfrage scheint es hingegen entscheidend klarzumachen, dass Bildung etwas ist das vom Staat grundsätzlich nicht in einer optimal auf das Kind angepassten Weise zu leisten ist.

Und von genau diesem Verständnis sind viele Menschen in der Schweiz noch meilenweit entfernt. Bei ihnen dominiert nach wie vor das Urteil: «Der Staat soll mein Kind für das Gesellschaftssystem in dem wir leben optimal vorbereiten». Das nennt man auch euphemistisch «Sozialisierungsfunktion der Volksschule». Dass man damit den eigenen Kindern eigentlich Systemkonformität verordnet, ist den wenigsten Eltern bewusst. «Die Volks-Schule soll die Kinder integrieren», so eine bekannte Formel, um damit zum Ausdruck zu bringen, was man eigentlich meint: Der Staat soll die Kinder gesellschaftlich disziplinieren, damit sie in das System passen, in dem wir leben.

Dem setzt Rudolf Steiner in einem Aufsatz zur Dreigliederung des sozialen Organismus entgegen: «Schulen, die vom Staate und vom Wirtschaftsleben ganz unabhängig sind, werden Menschen aus sich hervorgehen lassen, deren Geisteskraft gestaltend auf Staat und Wirtschaft wirken kann.»1

1Rudolf Steiner, Aufsätze zur Dreigliederung des sozialen Organismus, 024.pdf