Istvan Hunter: Lieber Herr Wiesmann, auf unserer Hompage demokratie-schweiz werden Sie als Fachlicher Beirat bezeichnet. «Der fachliche Beirat nimmt aufgrund seiner fachlichen Expertise Stellung zu verschiedenen Themen und Anliegen der Fördergesellschaft Demokratie Schweiz.»

Sie waren in verschiedenen Bereichen der Wirtschaft sowie in Lehre und Forschung tätig. Sie haben sich dabei für Alternativen in den Bereichen Altersvorsorge, Bodennutzung und Handel mit Bioprodukten, sowie für Bildung, Unternehmenskommunikation und Marketing eingesetzt. Sie haben mehrere Bücher geschrieben. Ihr neustes Werk (Mit Vorsorgekapital anders umgehen, Futurum Verlag 2020) wird aktuell auch von der CoOpera Sammelstiftung empfohlen, die Sie mitbegründet haben. Ein kleineres Buch von Ihnen wird auch auf unserer Homepage aufgeführt. Es heisst, «Eintopf und Eliten, Weshalb unser Staat Alternativen braucht, Futurum Verlag 2017.

Sie beschreiben darin den Einheitsstaat als «Hochrisiko-Organisationsform». Was meinen Sie damit?

Matthias Wiesmann: Vorab zum Begriff: Inzwischen verwende ich eher den Begriff Einheitsverwaltungsstaat. Denn der Begriff Einheitsstaat wird auch als Synonym für Zentralstaat (im Gegensatz zum föderalen Staat) verwendet. Tatsächlich ist ja die Einheitlichkeit der Verwaltung über alle Bereiche hinweg das primäre Problem: Schule und Verkehrswesen beispielsweise sind verschiedene Abteilungen in derselben staatlichen Verwaltung.

Am Beispiel des aktuellen Ukrainekrieges, bzw. schon an der Abspaltung der Krim durch Russland 2014 kann man das Problem studieren, das vom Einheitsstaat ausgeht. Die Krim hätte gar nicht gezwungen werden müssen sich zwischen der Ukraine und Russland zu entscheiden. Genau so wenig hätte die Ukraine in einen Konflikt zwischen dem Westen und Osten hineingezwungen werden müssen. Würde man die Souveränität bestimmter Gebiete in wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und ethnischer Hinsicht anerkennen, müsste der Nationalstaat auch nicht zwanghaft versuchen bestimmte Gebiete zu vereinheitlichen und seiner einheitsstaatlichen Kontrolle zu unterwerfen.

Man kann die Schweiz als Einheitsstaat beschreiben. Man kann aber genauso gut auf den föderalistischen Charakter der Schweiz blicken, auf die kantonale Souveränität, auf die vielen Zweckverbände, Kooperativen, verschiedenen Rechtsformen, von Allmenden bis hin zu Genossenschaftsformen und Schulgesetzen. Diese erlauben der Schweiz eine grosse Vielfalt in der Einheit. Ein reiner Einheitsstaat erzeugt durch die Vereinheitlichung von wesentlichen Strukturen zu wenig Resilienzen. In Krisen, wie zum Beispiel Kriegen, erweisen sich Einheitsstaaten deshalb als viel anfälliger für Zerstörung und Verfall. Das, was man heute häufig als lästig empfindet, den Föderalismus, das macht es eben auch schwieriger ganze Staaten «aufzukaufen».

Statt Staaten zu vereinheitlichen, sollten mehr und mehr Bereiche in die Verantwortung der Gesellschaft übergehen. Ich habe im Zusammenhang mit den CORONA Massnahmen und der medialen Berichterstattung noch nie eine so gouvernementale Phase in unserem Land erlebt. So zeigt sich die Problematik des Einheitsstaates auch am Beispiel von CORONA. Als jemand der sich für die Dreigliederung einsetzt wird man ständig mit der Situation konfrontiert, dass Probleme am falschen Ort angegangen werden.

IH: Auf S. 90 Ihres Buches «Eintopf und Eliten», zitieren Sie aus einem Interview mit einem Kommandanten der Rojava- Volksverteidigungseinheiten in einer syrisch-kurdischen Region. Dieser sagt dort, es ginge nicht um die anarchistische Abschaffung des Staates und auch nicht um Kommunismus, sondern darum, Alternativen zu allen Bereichen des Staates zu entwickeln. Dann würden diese Bereiche des Staates verschwinden. Können Sie ein konkretes Beispiel dafür geben, was Sie damit meinen?

MW: Die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien, auch bekannt unter dem kurdischen Namen Rojava, die ein eigenes Autonomiegebiet begründet hat, hat zum Beispiel sämtliche öffentlichen Funktionen auf ihrem Gebiet mit einer Doppelbesetzung mit einem Mann und einer Frau besetzt, und das mitten in einem islamischen Kulturraum. So wurden viele fortschrittliche, nicht-staatliche Strukturen direkt aus Gemeindeaktivitäten heraus aufgebaut. Die Leute haben aufgrund von Anregungen des seit langem inhaftierten kurdisch-türkischen Führers Abdullah Öcalan und aus einer gesunden Intuition heraus gehandelt und so sind dort viele Strukturen aus Bürgerinitiativen entstanden.

Ein Dilemma der Dreigliederungsbewegung ist die gewünschte Vorwegnahme fertiger Konzepte, statt, dass man zum Beispiel die Assoziationen urbildhaft entwickelt. Ein zentrales Element der Dreigliederung ist die zwischenmenschliche Entwicklung. Der Konsument muss sich auf jeden Fall für den Produzenten interessieren – und umgekehrt. In dem Moment, wo mehr und mehr Wirtschaft auf assoziativem Wege geschieht, kann sich auch der Staat aus der Wirtschaft zurückziehen. Das bedingt jedoch eine vermehrte Aktivität der einzelnen Bürger. 

IH: Sie schreiben, es gehe darum, die Differenzierung der sozialen Realität in ihrer Dreigliedrigkeit um uns herum zu entdecken und zu entwickeln, und nicht einfach darum, sich für die Idee der Dreigliederung des Sozialen Organismus zu begeistern und andere dafür zu mobilisieren. Weshalb kann man Dreigliederung nicht durch ein politisches Programm einführen?

MW: Die Dreigliederung kann nur aus den bestehenden Verhältnissen heraus entwickelt werden, nicht anstatt der bestehenden. Das Bestehende muss studiert und erlebt werden. Zum Beispiel sind im Thurgau die Schulgemeinden kein Bestandteil der politischen Gemeinden. Es existieren verschiedene Bürgergemeinden, die ein Beispiel dafür sind, dass eine staatlich unabhängige Organisation bereits durch vergangene Entwicklungen veranlagt ist. Weder das Parlament des Kantons noch der Stadt Frauenfeld haben ein eigenes Regierungsgebäude. Stattdessen gehört es der Bürgergemeinde. Das wäre in einem Kanton wie Zürich, der viel einheitsstaatlicher funktioniert, undenkbar. Man muss soziale Archäologie treiben können, um festzustellen, dass alte Formen existieren, die durchaus Anklänge an die Dreigliederung bieten. Auch an Ansätze wie die der Allmenden lässt sich anknüpfen.

IH: Sie sagen, die Idee der Dreigliederung sei ebenso wenig wie das Konzept der funktionalen politischen Körperschaft ein Allheilmittel. Was ist eine Funktionale politische Körperschaft?

MW: Der Begriff stamm vom Ökonomen Bruno S. Frey. Er weist damit auf eine recht wenig beachtete quasistaatliche Organisationsform hin. Etliche Aufgaben des Gemeinwesens wie Wasserversorgung, Abwasserentsorgung, Müllentsorgung, Strafvollzug, Sozialwesen, öffentlicher Verkehr, Altersheime, Schulen oberhalb der Mittelstufe usw. werden nicht gemeindeweise organisiert, sondern von Verbünden, welche gemeindeübergreifend (gelegentlich Landesgrenzen-übergreifend) sind und je nach Aufgabe unterschiedliche Grenzen haben. Es ist also nicht so, dass die einheitsstaatliche Organisation einfach und eine alternative, z.B. dreigliedrige Organisationsform unmöglich kompliziert wäre. Gerade um solche Feststellungen machen zu können, ist es aber wichtig, dass «Dreigliederer» sich nicht nur mit einem Soll (der Dreigliederung), sondern auch mit dem Ist, der heutigen sozialen und politischen Realität beschäftigen.

Im Vorwort zu den «Kernpunkten der Sozialen Frage» schreibt Steiner diese Schrift sei «in keiner Weise utopistisch gemeint» Dreigliederung sei kein Modell. «Sondern es wird zu Menschengemeinschaften angeregt, die aus ihrem Zusammenleben das sozial Wünschenswerte herbeiführen können». Man hat die Neigung von der Gegenwart und den sozialen und politischen Gegebenheiten zu abstrahieren. Wenn man Dreigliederung utopistisch versteht, ist sie ebenso wenig wie andere Ideologien, z.B radikaler Liberalismus, eine Lösung für die gegenwärtigen Probleme. Auch «Funktionale politische Körperschaft» (siehe oben) ist ein Begriff aus dem Liberalismus, was im Geistesleben durchaus angebracht sein kann. Am Beispiel der funktionalen politischen Körperschaft: Verschiedene Schulanbieter würden sich um eine Schulgemeinde bewerben, so dass sich die «beste» Schule dann durchsetzen könnte.

IH: Und wieso kann die Dreigliederung nicht als Allheilmittel gesehen werden? Sie wurde von Steiner doch als notwendige Bedingung für eine Gesundung des Sozialen Organismus bezeichnet.

MW: Die Dreigliederung als Programm verstanden ist kein Heilmittel. Man könnte sie stattdessen als Tool verstehen, oder als Struktur (bzw.«Menschengemeinschaften» siehe oben), die Probleme löst. Die Lösung muss jedoch vor dem Hintergrund der realen, gegenwärtigen Probleme verstanden werden. Es muss eine Struktur geschaffen werden, die beispielsweise das Übergreifen der staatlichen Verwaltung auf die Schule verhindert.

IH: Wie sähe eine Altersversorgung aus, die statt auf Vorsorge, ganz auf ein Umlageverfahren setzt? Und wie weit hat die CoOpera Sammelstiftung diesem Ideal bisher entsprechen können?

MW: Als sich in den 1980er Jahren in der Schweiz abzeichnete, dass ein Pensionskassen- Obligatorium entstehen würde, wurde im Hinblick darauf 1984 die CoOpera Sammelstiftung begründet. Eine Pensionskasse (= 2. Säule = Kapitaldeckungsprinzip) ist eigentlich ein Versicherungs- und Anlageunternehmen. Das Prinzip der CoOpera ist keine Börsenspekulation zu unterstützen und stattdessen ausschliesslich auf Immobilien- und Kreditverzinsung zu setzen. Aus Sicht der Dreigliederung hätte man zur Altersversorgung auch einfach die AHV vergrössern können. Im Grunde genommen könnte man die AHV verdreifachen und sich die ganzen Verwaltungskosten und Honorare der Pensionskassen sparen. Wie ich in einem (nicht veröffentlichten) Leserbrief an die NZZ gezeigt habe, sind die Leistungen des BVG etwa 30-mal teurer als diejenigen der AHV (auf den Rentenfranken heruntergerechnet). Unter den gegenwärtigen Verhältnissen könnte man zur Sicherung der AHV vorerst auch weiterhin auf Kaptalerträge für die AHV setzen.

Aber das Gerede um die Nicht-Bezahlbarkeit der AHV dient im Grunde genommen nur dazu Gelder für die Kapitalspekulation zu erzeugen, die jedoch auch auf anderem Wege entstehen könnten. Defacto werden die Renten der Pensionierten ja nicht durch diejenigen Leistungen bezahlt, die damals einbezahlt wurden, sondern durch diejenigen, die die Wirtschaft gegenwärtig erbringt.

IH: Sie waren seit 1990 an der Gründung und Entwicklung mehrerer Handelsunternehmen und Initiativen für Bioprodukte beteiligt. Sahen Sie in dieser Tätigkeit auch Ansätze für den Assoziativ-Gedanken von Steiner? Und weshalb konnte sich der Assoziativ-Ansatz bisher in keinem Bereich durchsetzen?

MW: Ich vermeide den Begriff Assoziation. Eher verwende ich «Zusammenarbeit mit assoziativem Charakter». Ein Zusammenschluss von Produktion, Handel und Konsum schon als Assoziation zu verstehen ist zu einfach gedacht. Eine Assoziation darf jedoch den Handel nicht ausschliessen. Der Quartierladen kann nur durch Handel überleben. Wenn ein Grossteil der Konsumenten seine Hauptlebensmittel nur noch auf dem Hof einkaufen würde, würden auch die Quartierläden eingehen. Das Thema der Assoziation ist zunächst «Wahrnehmungsorgane bilden», nicht von vornherein funktionell festgesetzte Strukturen. Wirtschaftsverbände fungieren eigentlich als solche Organe. Man könnte Kooperativen gründen, (z.B Vereine), die Bedürfnisse und Versorgungsmöglichkeiten erkunden, um so den Einzelhandel stärker aus dem Gesamtbedürfnissen heraus zu organisieren. Stattdessen werden Läden nach wie vor als Pionierinitiativen Einzelner gegründet, worin sich oft eher das Bedürfnis der GründerInnen spiegelt als dasjenige der KundInnen. Die Konkurrenzverhältnisse müssen in diese Überlegungen immer miteinbezogen werden, um zu eruieren, ob sich eine Assoziation lohnt. Preisabsprachen mit den Produzenten sind durchaus möglich. Heute geht man stillschweigend davon aus, dass die tiefsten Preise die besten sind. In der Assoziative muss es jedoch um den «richtigen» und nicht um den tiefsten Preis gehen. Bei Via Verde hatten wir bei Importen von Salamita / Sizilien eine Vorkalkulation wie eine Nachkalkulation der Kosten und Preise gemacht. Diese wurden für die ganze Lieferkette transparent gemacht und zeigten so die Preisbildung auf, was ein wertvoller assoziativer Ansatz war.

IH: Sie leiteten Projekte in den Bereichen Publizistik, Bildung, Unternehmens-kommunikation und Marketing. Wo sehen Sie die Chancen für eine Popularisierung der Dreigliederung des Sozialen Organismus vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Verhältnisse?

MW: Ich war in der Stadt Bern damals in den 80er Jahren für die POCH (Progressiven Organisationen der Schweiz) in die Schulpflege der Stadt Bern gewählt worden und wurde später Mitglied des Initiativ-Komitees für eine Freie Schulwahl. Die Initiative scheiterte damals, wie später auch in anderen Kantonen, auch wenn sie ideell richtig war und ist. So ist die Initiative für eine Freie Schulwahl meiner Meinung nach weiterhin eine Möglichkeit die Dreigliederung näher zu kommen, da freie Bildungsmöglichkeiten zentral für die Befreiung des Geisteslebens sind.

Bei der «Subjektfinanzierung statt Institutionsfinanzierung» geht es darum: Nicht bestimmte Heime / Institutionen/ Schulen werden finanziert, sondern die Menschen, sie können sich selber für eine Institution entscheiden, die dann das Geld erhält. Solche Einrichtungen und Prozesse muss man als Dreigliederer kennen, bevor man der Welt predigt, dass das Geisteleben freiheitlich funktionieren muss. Wie das Beispiel der Subjektfinanzierung zeigt, sind gewisse Einrichtungen eben schon freiheitlich geregelt und können als Beispiel dienen. Dazu muss man aber die Realität kennen.

Es gibt immer wieder Möglichkeiten, wo man versuchen kann mit der Dreigliederung politisch, wirtschaftlich, oder sozial anzuschliessen. Man muss sich aber auf etwas konzentrieren, an das sich real anschliessen lässt, um die Dreigliederung exemplifizieren zu können. Ohne solche praktischen Beispiele wird es nicht möglich sein, die Dreigliederung bekannter zu machen.

IH: Lieber Herr Wiesmann, Ich danke Ihnen für das Gespräch.

 

Matthias Wiesmann

Matthias Wiesmann, 1945 geboren, war nach einem sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Studium zunächst als Dozent und Hochschulassistent tätig. Seit 1990 an der Gründung und Entwicklung mehrerer Handelsunternehmen und Initiativen für Bioprodukte beteiligt. Mitbegründer der Altersvorsorgestiftung CoOpera Sammelstiftung PUK sowie der Stiftung für Nutzungseigentum am Boden. Neben seinen Aufgaben im Vorstand und der Geschäftsführung zahlreicher Unternehmen umfasst sein Tätigkeitsfeld Projekte in den Bereichen Publizistik, Bildung, Unternehmenskommunikation und Marketing.

Kontakt: k.m.wiesmann@gmail.com, Webseite: https://matthias-wiesmann.ch/