Die besten der bisher vorliegenden Stellungnahmen zur Corona-Krise nehmen nicht ausdrücklich Bezug auf die soziale Dreigliederung. Und umgekehrt gehören die Stellungnahmen zur Corona-Krise, die ausdrücklich Bezug auf die soziale Dreigliederung nehmen, nicht zu den besten. Statt nun näher auf diese Versuche einzugehen, werde ich ganz von vorne beginnen, nämlich bei der sozialen Dreigliederung selbst, also mit Rudolf Steiners Annahme, dass heute Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben am besten zusammenwirken, wenn sie sich erstmal organisatorisch selbständig gemacht haben.

Beitrag von Sylvain Coiplet, Leiter des Insituts für soziale Dreigliederung, Berlin.

Die erste Frage, die sich dabei stellt, ist: Was versteht Rudolf Steiner unter Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben? Geistesleben mit Kultur, Rechtsleben mit Politik und Wirtschaftsleben mit Wirtschaft zu übersetzen wäre ein grober Fehler. „Wirtschaft“, wie es heute verstanden wird, umfasst nicht das ganze Wirtschaftsleben, sondern beschränkt sich auf die Produzenteninteressen. „Kultur“ ist nicht das ganze Geistesleben, sondern für die meisten bloßer Luxus und damit im Notfall nicht systemrelevant. „Politik“ ist zugleich zu eng und zu weit gefasst, also doppelt daneben.

Was Rudolf Steiner mit seiner sozialen Dreigliederung meint, das wird schon klarer, wenn man begreift, dass er zum Rechtsleben dasjenige rechnet, was durch Gesetze geregelt werden kann. Zum Wirtschaftsleben gehört, was stattdessen über Verträge abgemacht werden muss. Damit sind nicht nur schriftliche Verträge gemeint, sondern auch jeder Kauf. Das Geistesleben lässt sich nicht „regeln“ aber trotzdem geht es Rudolf Steiner auch hier um eine spezifische Art des Zusammenspiels zwischen Menschen. So spricht er von den Ratschlägen, die man sich von anderen holt, weil man meint, dass sie einen weiter bringen können. Im Hintergrund steht die informelle Abmachung, dass man sich das letzte Wort selbst vorbehält.

Bezogen auf das Gesundheitswesen sehen die Entscheidungsstrukturen bei einer sozialen Dreigliederung demnach so aus:

  • Ratschläge des Arztes für die Gesundheit
  • Gesetze über Hygiene
  • Verträge zur Herstellung von Medikamenten

Ein Tick ausführlicher:

  • Dass die ärztliche Tätigkeit in die Zuständigkeit des Geisteslebens fällt, bezieht sich auf die inviduellen Aspekte der Gesundheit. Worauf muss ich achten, um gesund zu bleiben? Wie werde ich wieder gesund? Der Arzt fungiert hier als Berater.
  • Entscheidend für die Zuständigkeit des Rechtslebens bei Hygienefragen ist die Tatsache, dass es hier nicht um die eigene Gesundheit geht, sondern um die Gefährdung der Mitmenschen. Es braucht keine infektiöse Krankheit zu sein, was einem jetzt durch die allgegenwärtige Corona-Pandemie als Erstes einfällt. Verrottender Müll auf der Strasse tut es auch.
  • Das Wirtschaftsleben kommt ins Spiel, wenn Waren benötigt werden. Medikamente sind hier nur ein Beispiel. Hygieneartikel gehören genauso dazu. Durch die Industrialisierung ergibt sich die Möglichkeit – aber auch die Versuchung – Medikamente in grossen Mengen zu produzieren.

Nun wäre es naiv zu glauben, dass es uns gelungen ist, Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben organisatorisch selbständig zu machen. Da würde man sich eine heile Welt vormachen. Sogar die Entscheidungen, die – für sich genommen – stimmig zu sein scheinen, erweisen sich in einem Kontext der gegenseitigen Korruption von Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben als hochproblematisch.

Wir wollen auf einige charakteristischen Beispiele eingehen.

Gesundheit und Rechtsleben

Selten haben in Deutschland politische Entscheidungen eine so breite Zustimmung erhalten wie die Corona-Maßnahmen. Dazu trägt bei, dass viele den Eindruck haben, endlich würde die Sicherheit der Bevölkerung über die wirtschaftlichen Interessen gestellt werden. Ob dem wirklich so ist, das ist zwar alles andere als sicher. Unbestreitbar ist aber, dass sich viele nach einer solchen Priorität sehnen. In der Corona-Politik sehen sie einen Beleg dafür, was alles möglich wird, wenn die Forderung nach Sicherheit ernst genommen wird.

Nun rechnet Rudolf Steiner im Rahmen der sozialen Dreigliederung die Hygiene zu den Fragen, die durch das Rechtsleben, das heisst durch Gesetze geregelt werden sollten. Da es in einer Epidemie oder Pandemie um Ansteckung geht, liegt es also nahe anzunehmen, dass die gegenwärtigen Maßnahmen nicht im Widerspruch zur sozialen Dreigliederung stehen würden. Was Geistesleben und Wirtschaftsleben mit Gesundheit zu tun haben, könne man unberücksichtigt lassen, weil die Hygiene ausserhalb ihres Zuständigkeitsbereichs fällt.

Wer so argumentiert, übersieht dabei, dass das Rechtsleben auf die Ergebnisse des Geisteslebens und Wirtschaftslebens angewiesen ist, um die eigenen Aufgaben erfüllen zu können. Und es geht wahrlich nicht bloß darum, dass man keine Maskenpflicht verordnen kann, wenn nicht genug Masken produziert worden sind.

Gesundheit und Geistesleben

Wie anfangs erwähnt, beschränkt sich dasjenige, was Rudolf Steiner unter Geistesleben versteht, nicht auf die Kultur, sondern dazu zählt – neben anderen Überraschungen – die Wissenschaft. Nun könnte man sich freuen, dass wenigstens dieser Zweig des Geisteslebens in der Corona-Krise für durchaus systemrelevant gehalten worden ist. Was in den letzten Monaten in die Impfforschung zusätzlich investiert wurde, das ist nicht gerade wenig.

Ein charakteristischer Zug unserer modernen Wissenschaft ist aber die Suche nach möglichst universellen Regeln. Ob man damit der Wirklichkeit gerecht wird, ist insbesondere in der Medizin fraglich. Bei Krankheiten wird bis heute auf den Unterschied zwischen Mann und Frau zu wenig Rücksicht genommen. Während in dieser Frage erste zögerliche Fortschritte zu vermelden sind, geht man bei Studien zur Wirksamkeit von Medikamenten immer noch stillschweigend davon aus, dass es keinen Unterschied macht, ob diese Studien z.B. im europäischen oder im amerikanischen Raum stattgefunden haben. Nur ganz wenige Ärzte kommen auf die Idee, diese Annahmen zu hinterfragen. Diese Abweichler stossen dann nicht nur auf ein wissenschaftliches Vorurteil, sondern auf die Interessen der Pharmaindustrie. Diesen Produktionsinteressen wird am besten gedient, wenn die gesamte Weltbevölkerung vorsorglich, und gern auch wiederholt, Medikamente einnehmen muss. Nur dann können nämlich die Vorteile der industriellen Produktion voll ausgespielt werden. Diesem Idealbild der Pharmaindustrie am nächsten kommen die Impfungen.

Es sollte bedenklich stimmen. Wir haben es hier zu tun mit einer Schwachstelle im Geistesleben, in der Wissenschaft. Solange es nicht gelingt, das Geistesleben organisatorisch selbständig zu machen, dann wird das wissenschaftliche Bestreben nach universellen Regeln zum Einfallstor für wirtschaftliche Interessen.

Wenn nun politische Entscheidungsträger behaupten, dass die Corona-Krise nur durch Impfungen überwunden werden kann und ihre ganze Strategie, ihre ganzen Verordnungen und Gesetze darauf abstellen, dann gibt es gute Gründe zu befürchten, dass sich Geistesleben, Wirtschaftsleben und Rechtsleben hier in einer gefährlichen Abwärtsspirale befinden.

Stand: 09.02.2021.

Dieser Artikel wurde ursprünglich auf der Webseite des Instituts für Soziale Dreigliederung publiziert.

 

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