Von Matthias Wiesmann

Rudolf Steiner formulierte die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus, als das Ende des Ersten Weltkriegs absehbar wurde. Er beantwortete damit die Frage nach den Ursachen des Kriegs und nach der Möglichkeit, solche Konflikte in Zukunft zu vermeiden? Vielleicht überrascht es, wenn die Antwort – in heutiger Sprache ausgedrückt – ähnlich lautet wie im Rahmen der Umweltproblematik, die uns nun schon seit vielen Jahren beschäftigt: Es braucht eine Erhöhung der Diversität. Was im landwirtschaftlichen Bereich die Monokultur, ist im gesellschaftlichen Bereich der Einheitsstaat. («Eintopf-Staat» nannte ich ihn in meinem 2017 erschienen Büchlein Eintopf und Eliten). Der Einheitsstaat zeichnet sich durch eine Machtballung aus. Die wichtigen gesellschaftlichen Funktionen (Wirtschaft, Kultur, Recht) werden von einem Zentrum aus gesteuert. Auf diese Überlegungen greife ich zunächst zurück, um anschliessend einen Bezug zum gegenwärtigen Krieg in der Ukraine herzustellen.

«Eintopf-Staat» als Konfliktförderer

Als ich jenes Buch schrieb, hatte ich die zunehmende Zahl «einsamer Männer» vor Augen, die sich auf verblüffen­de Weise und oft in sehr kurzer Zeit die Staatsmacht aneigneten (in der Türkei, in Ungarn, Polen, Frankreich, Österreich, Tschechei) Reihenweise fielen Regierungen auf demokratischem Weg in die Hände von Personen, denen nichts ferner liegt als eine wirkliche Mitgestaltung der Bevölkerung an ge­sellschaftlichen Prozessen. Die Usurpation von Macht wird Dank den immer zentralisierteren und von effizienten Datenbanken unterstützten Organisationsformen unserer Gesellschaft immer einfacher. Deshalb bezeichnete ich den nationalen Einheitsstaat als «Risiko-Organisationsform». «Nation» ist ein Begriff, der in der Geschichtsschrei­bung sehr fruchtbar ist. Nation ist aber kein Zukunftskonzept. Sowohl Krim wie Katalonien machen dies deutlich. Das Kartell der EU-Staaten, die sich (damals) kompromisslos auf die Seite des spanischen Zentral­staats gestellt haben, zeigen die Angst vor jeder Bewegung im Gefüge der Völker Europas.

Weil der nationale Einheitsstaat als Risiko-Organisationsform anzusehen ist, stellt sich die Frage der Risiko-Min­derung. Wie schützen Staaten sich vor «feindlichen Übernahmen» (wie man bei einer Wirtschaftsunternehmung sagen würde). Schutz bietet die Abkehr vom fortschreitenden Zentralismus beziehungsweise eine Diversifikation der Macht. Das setzt eine Diversifikation staatlicher Organisationsformen voraus.

Unter dem Aspekt der Diversifikation referierte ich den Ansatz des Ökonomen Bruno S. Frey, dem bereits in den 1990er Jahren das Potential funktionaler Organisationen aufgefallen war. Funktionale Organisationen sind Ver­bünde sehr oft von Gemeinden, die gemeinsam und grenzüberschreitend Aufgaben wahrnehmen (Abfuhrwesen, Abwasserreinigung, Sozialwesen, Betreiben eines Hallenbads, Staatsgrenzen überschreitend zum Beispiel auch Schutz von Hochrhein und Bodensee, in Basel öffentlicher Verkehr, Tertiäre Ausbildung in Kreuzlingen-Konstanz). Das Modell funktionaler Organisationen wirkt tendenziell Nationengrenzen-auflösend. In den Gremien dieser Or­ganisationen treffen sich Menschen verschiedener Gemeinwesen. Sie bilden ein «demokratisches Substrat» aus­serhalb der zentralstaatlichen Hierarchie. Bruno S. Frey schrieb dazu im Herbst 2016 einen Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung, den er folgendermassen betitelte: «Es gibt eine Alternative zur EU».

Frey verleugnet seine ökonomische Herkunft nicht. Er kann sich vorstellen, dass es einen Markt von Anbietern gibt, welche den Gemeinden Leistungen in den erwähnten und weiteren Bereichen (zum Beispiel Schulwesen) an­bieten. Dass die Dienstleistungen (Schule oder öffentlicher Verkehr) und entsprechend deren Organisationform unterschiedlicher Natur sind, wird von ihm nicht behandelt. Demgegenüber war es mir wichtig, die Unterschiede im zweiten Kapitel («Nicht alles über denselben Leisten schlagen!») sozialphänomenologisch darzustellen. Diese Beschreibungen führen direkt zur Differenzierung, die Rudolf Steiner 1918/1919 mit seiner Dreigliederung des sozialen Organismus nicht nur dargestellt, sondern im Rahmen der Rätebewegung Württembergs im Sommer 1919 tatkräftig verfochten hat.

Die Selbstverwaltung in Kultur- und Geistesleben und im Wirtschaftsleben (mit ihren Assoziationen) führt zu ei­ner gegenüber heute intensivierten Beteiligung Betroffener und ebenfalls zu einer Diversifikation der Macht wie bei Frey. Wenn sich auf diesem Weg Aufgaben, die der Staat heute wahrnimmt, auf andere Trägerschaften ver­teilt, geht der direkte verwaltende und anordnende Einfluss des zentralen Einheitsstaates zurück. Das oben ge­nannte Risiko wird abgebaut. Der Staat mit seinen demokratisch gewählten Organen kann sich mehr und mehr auf die Definition des rechtlichen Handlungsrahmens zurückziehen – kein Wirkungsfeld für «einsame Männer», wie ich die Machtusurpatoren oben genannt habe.»

 

Aspekte des Kriegs in der Ukraine

Was fehlende funktionale Differenzierung bewirken kann, sei hier anhand der Sprachenproblematik in der Ostukraine dargestellt. Einheitsstaaten tendieren zu «Einheitssprachen» beziehungsweise zur Diskriminierung von Minderheitensprachen (siehe z.B. baskische oder katalanische Minderheiten in Spanien). Im Osten der Ukraine gibt es einen hohen Anteil Russischsprachiger. «Der Anteil der russischen Muttersprachler ist höher als derjenige der ethnischen Russen, da es auch ethnische Ukrainer und Angehörige anderer Nationalitäten gibt, die Russisch als Muttersprache angeben. Der Anteil liegt in Donezk bei 74,9 %, in Luhansk bei 68,8 %. (Wikipedia)

«Jahrhundertelang ohne eigene Staatlichkeit, haben die Ukrainer ihre Identität wesentlich im Medium der ukrainischen Sprache bewahrt. Es war deshalb folgerichtig [?], dass die neue Ukraine nach 1991 in ihrer Verfassung die ukrainische Sprache zur alleinigen Staatssprache erklärte. … Das neue Bildungsgesetz vom September 2017 hat zu einem internationalen Streit über Schulsprachen geführt. Das Gesetz sieht eine Intensivierung des Ukrainischunterrichts in den Minderheitenschulen des Landes vor. Dagegen hat insbesondere die ungarische Regierung lautstarken Protest auf internationaler Bühne bis in die Nato hinein erhoben. Der Vorwurf lautet: Das neue Gesetz führe zur Schließung der ungarnsprachigen Minderheitenschulen in Transkarpatien.» (Gerhard Simon, Website Bundeszentrale für politische Bildung 4.12.2017) «Die Ukraine unter Präsident Selensky schreibt auch in russischsprachigen Gebieten der Ukraine in Schulen ab der 5. Klasse, allen Beamten, überregionalen Zeitungen, Supermärkten, Apotheken und Banken vor, Kunden und Schüler auf ukrainisch anzusprechen. Ausländische Filme am Fernsehen müssen auf ukrainisch synchronisiert werden.» (Urs P. Gasche auf Infosperber vom 28.1.2022)

Im Kleinen lassen sich solche Prozesse immer wieder beobachten. Nachdem die Volksschul-Lehrpläne in der Schweiz weitgehend gleichgeschaltet worden waren (man sprach von «Harmonisierung»; die Mächtigen manipulieren auch bei uns die Sprache, wie Putin, der das Wort «Krieg» meidet), als damit Frühfranzösisch hätte eingeführt werden sollen, entschied sich das Kantonsparlament des Kantons Thurgau dagegen. Das rief den eidgenössischen Innenminister Bundesrat Berset auf den Plan, der mit Bundesrecht und Zwang drohte. Das Kantonsparlament setzte Frühfranzösisch erneut auf die Tagesordnung – und entschied sich dafür …

Was hier für die Sprache dargestellt wurde, dürfte für die Kultur ganz allgemein gelten: Diese Art von Politik ist nationalstaatlicher Imperialismus in einem Bereich, der von den betroffenen Menschen innerhalb ihrer kulturellen Selbstverwaltung eigentlich allein zu gestalten wäre. Angesichts der kulturpolitischen Arroganz der Regierung von Kiew ist es nicht verwunderlich, dass der ukrainische Staat im Osten kaum Sympathien gewinnen konnte und mit seiner Intransigenz ein Einfallstor für den allrussischen Imperialismus von Putin schuf.

Das mag nun als Schuldzuweisung an die «falsche Seite» erscheinen. Dies trifft nicht zu. Es handelt sich hier nicht um eine Schuldzuweisung an eine bestimmte Seite, sondern um eine Schuldzuweisung an die allgemein (auch bei uns) vertretenen Prinzipien von Staatlichkeit und Nationalismus, die auch zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs wesentlichen Zündstoff lieferten. Mit den nationalistisch zelebrierten Sport- und anderen Wettkämpfen (z.B. Eurovision Song Contest) wird ein scheinbar harmloser Nationalismus weiterhin angeheizt, ein Abgrenzen gegen fremde oder gegnerische Mitbewerber – eine chauvinistische, wenn nicht gar rassistische Tendenz. Das «Selbstbestimmungsrecht der Völker» stand als «Friedenslösung» am Ende des Ersten Weltkriegs und wurde gleichzeitig zum Anfang nachfolgender Konflikte (Bosnien-Herzegowina, Bosnien usw.). Die Selbstbestimmung eines Volkes (vor allem wo es sich um kulturelle Fragen handelt) ist im besseren Fall eine Fiktion, im schlechteren Fall ein Rückfall in rassistisch-völkische Zeiten. Selbstbestimmt kann nur das Individuum sein. Das «Selbst» eines Volkes ist ein fataler Mythos.

«Daneben stellte Rudolf Steiner 1917 in aller Deutlichkeit dar, wohin ein ‹völkisch-rassisches›, an das leibliche Blutprinzip gebundenes Denken führen müsse: ‹Ein Mensch, der heute von dem Ideal der Rassen und Nationen und Stammeszugehörigkeiten spricht, der spricht von Niedergangsimpulsen der Menschheit. Und wenn er in diesen sogenannten Idealen glaubt, fortschrittliche Ideale vor die Menschheit hinzustellen, so ist das die Unwahrheit. Denn durch nichts wird sich die Menschheit mehr in den Niedergang hineinbringen, als wenn sich die Rassen-, Volks- und Blutsideale fortpflanzen.›» (Markus Osterrieder: Welt im Umbruch. Nationalitätenfrage, Ordnungspläne und Rudolf Steiners Haltung im Ersten Weltkrieg.Stuttgart 2014, S. 1097)

Die sogenannte Selbstbestimmung eines Volkes, läuft in kulturellen Fragen immer auf Fremdbestimmung von Minderheiten hinaus. Mit weitgehender Föderalisierung kann dieses Problem, wie die Schweiz zeigt, ein Stück weit entschärft werden. Der mehrheitlich katholische, französischsprachige Jura (eine Hinterlassenschaft des Bistums Basel) sah sich als marginalisierte Minderheit innerhalb des mehrheitlich protestantisch-deutschsprachigen Kantons Bern. Massive Konflikte mündeten schliesslich in die Bildung des neuen Kantons Jura. Die Möglichkeit einer sehr weit gehenden kulturellen Autonomie, allenfalls in Kooperation mit angrenzenden französischen Körperschaften, wurde nicht in Betracht gezogen. Einen ähnlichen Konfliktlösungesweg beschritt Italien mit einem Autonomiestatut für das Südtirol.

Solche Lösungen wären vielleicht auch für die Krim denkbar gewesen. Die kulturelle Tradition zeigt sehr enge Beziehungen der Krim zu Russland. Sie hätten gestärkt werden können, was den Druck zur Annexion durch Russland wohl vermindert hätte. Die eskalierte Situation staatlicher Allmachtsambitionen über alle Bereiche der Gesellschaft läuft auf eine Alles-oder-nichts-Auseinandersetzung hinaus, wie wir sie derzeit in der Ukraine beobachten können – mit den tragischen Folgen für die Bevölkerung. Der Alles-oder-nichts-Kampf läuft auf den Abbruch aller Brücken auch beispielsweise in Kultur (Musik) und Sport hinaus. Man mag es begrüssen, wenn Putin-Höflingen der Auftritt in unseren Konzertsälen verwehrt wird. Aber ob mit dem Abbruch der Brücken Verständigung erleichtert wird, ist doch sehr zu bezweifeln.

Ersterscheinung auf: https://matthias-wiesmann.ch/2-allgemein/249-eintopf-staat-als-konfliktfoerderer